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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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und Ersparte verteidigen
sollst. Kann denn so etwas sein? Darf das etwa sein? fragte sich Kaufmann
Pawle unaufhörlich, und da er keine Antwort fand, kehrte er wieder an den
Ausgangspunkt seiner Gedanken, daß er alles verlieren sollte, zurück.
    So sehr er sich auch bemühte, irgend
etwas anderes zu denken, es gelang ihm nicht. Immer wieder bestürmten ihn die
gleichen Gedanken. Und die Zeit kroch tödlich langsam dahin. Es schien ihm, als
läge diese Brücke, über die er Tausende von Malen gegangen war, jetzt mit
ihrem ganzen Gewicht auf seinen Schultern, wie ein unerklärliches und
schicksalhaftes Geheimnis, wie ein Alb in einem Traum, aber in einem Traum ohne
Erwachen.
    Daher saß Kaufmann Pawle so
niedergedrückt, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Er fühlte, wie ihm
der Schweiß unter dem steifen, gestärkten Hemd, dem Kragen und den Manschetten
aus allen Poren brach. Unter dem Fez lief der Schweiß in Bächen. Er wischte ihn
nicht fort, sondern ließ ihn in schweren Tropfen von seinem Gesicht zu Boden
fallen, und es schien ihm, als vergehe und verrinne damit auch sein Leben
selbst.
    Die beiden Soldaten, ungarische
Bauern, Männer in reiferen Jahren, schwiegen und aßen Brot und mit Paprika
bestreuten Speck; sie aßen langsam, mit ihren kleinen Taschenmessern bald ein
Stück Brot und bald eine Scheibe Speck abschneidend, als seien sie auf dem
Acker. Dann spülten sie mit einem Schluck Wein aus der blechernen Feldflasche
nach und zündeten ihre kurzen Pfeifen an. Schmatzend sagte der eine von ihnen
ruhig:
    »Na, so habe ich noch keinen
schwitzen gesehen.«
    Danach rauchten sie in völliger
Stille weiter.
    Aber nicht nur Kaufmann Pawle
schwitzte diesen blutigen Schweiß und verlor sich in einem Traum, aus dem es
kein Erwachen gab. Auf diesem Fleckchen Erde zwischen Drina und der trockenen
Grenze, in der Stadt, in den Dörfern, auf den Wegen und in den Wäldern, überall
suchten die Menschen in diesen Sommertagen im Schweiße ihres Angesichts den
Tod, den eigenen, wie den des anderen, zur gleichen Zeit aber flohen sie und
verteidigten sich gegen ihn mit allen Mitteln und allen ihren Kräften. Dieses
sonderbare menschliche Spiel, das sich Krieg nennt, griff immer mehr um sich,
breitete sich aus und unterwarf alle Lebewesen und alle toten Dinge seiner
Macht.
    Unweit dieser Gemeindebaracke lag an
jenem Morgen eine Abteilung ungewöhnlichen Militärs. Sie trugen weiße Uniformen
und weiße Tropenhelme. Es waren deutsche Soldaten, die sogenannte
Skutari-Abteilung. Sie waren vor dem Kriege nach Albanien geschickt worden, wo
sie, gemeinsam mit den Abteilungen anderer Staaten, als internationale Truppe,
Ruhe und Ordnung aufrechterhalten sollten. Als der Krieg ausbrach, hatten sie
Befehl erhalten, Skutari zu verlassen und sich dem nächsten Kommando der
österreichischen Truppen an der serbischen Grenze zur Verfügung zu stellen. Sie
waren in der vergangenen Nacht eingetroffen und ruhten sich jetzt in der Senke
aus, die den Markt von der Stadt trennte. Hier, im toten Winkel, warteten sie
auf den Befehl zum Angriff. Es waren etwa einhundertzwanzig Mann. Ihr
Hauptmann, ein dicker, blonder Mann, der die Hitze schlecht vertrug, schnauzte
gerade jetzt den Gendarmeriewachtmeister Danilo Repatz an, wie nur Vorgesetzte
im deutschen Heer zu schnauzen vermögen, laut, rücksichtslos und pedantisch.
Der Hauptmann beschwerte sich, daß er und seine Soldaten vor Durst umkämen, daß
sie nicht einmal das Notwendigste besäßen, während um sie herum die Läden, in
denen es wahrscheinlich alles gäbe, geschlossen seien, obgleich der Befehl
bestehe, die Läden offen zu halten.
    »Was sind Sie eigentlich hier?
Gendarmerie oder Popanze? Ich kann hier mit meinen Leuten verrecken! Oder soll
ich vielleicht wie ein Räuber in die Läden einbrechen? Sofort holen Sie die
Eigentümer und stellen uns die notwendigen Lebensmittel und gesunde Getränke
sicher! Sofort! Wissen Sie, was das heißt, sofort?«
    Mit jedem Wort schoß dem Hauptmann
das Blut mehr zu Kopfe. In der weißen Uniform, mit seinem wie der Mohn roten,
kahl geschorenen Schädel brannte er wie eine Fackel vor zorniger Gewalt.
    Wachtmeister Repatz zitterte, völlig
gelähmt, und wiederholte nur:
    »Zu Befehl, Herr Hauptmann. Sofort.
Zu Befehl. Sofort.«
    Und dann, ohne Übergang aus seiner
kataleptischen Starre in eine fast irre Beweglichkeit verfallend, machte er
kehrt und eilte zur Stadt. Es schien, als habe sich der Wachtmeister zu sehr jenem
Hauptmann genähert, der vor
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