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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker
Autoren: Mario Livio
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Anspruch genommen hatte, wurde auf vier prägnante Formeln reduziert. Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ist, was das betrifft, sogar noch erstaunlicher – sie ist das perfekte Beispiel für eine außerordentlich präzise, in sich stimmige mathematische Theorie für etwas so Fundamentales wie die Struktur von Raum und Zeit.
    Aber es gibt, was die aberwitzige Tauglichkeit der Mathematik anbelangt, auch eine «passive» Seite, und diese ist derart überraschend, dass der «aktive» Aspekt im Vergleich dazu schier verblasst. Von Mathematikern zu reinem Selbstzweck – ohne irgendwelche Anwendungen im Hinterkopf – ersonnenen Prinzipien und Zusammenhänge erwiesen sich Jahrzehnte (in manchen Fällen Jahrhunderte) später völlig unerwartet als Lösung für Probleme der physikalischen Realität! Wie ist das möglich? Betrachten wir zum Beispiel den recht amüsanten Fall des exzentrischen britischen Mathematikers Godfrey Harold Hardy (1877–1947). Hardy war derart stolz auf die Tatsache, dass seine Arbeit nichts weiter sei als reine, absolut zweckfreie Mathematik, dass er mit großem Nachdruck erklärte: «Keine Entdeckung von mir hat, direkt oder indirekt, zum Guten oder Schlechten, das allgemeine Wohlbefinden der Welt auch nur in geringster Weise beeinflusst oder wird dies vermutlich jemals tun!» Stellen Sie sich vor: Er hatte unrecht! Eine seiner Arbeiten feierte Auferstehung im Hardy-Weinberg-Gesetz (benannt nach Hardy selbst sowie dem deutschen Arzt Wilhelm Weinberg [1862–1937]), einem fundamentalen Prinzip, mit dessen Hilfe Genetiker die Evolution von Populationen untersuchen. Einfach ausgedrückt, besagt das Hardy-Weinberg-Gesetz, dass in einer hinreichend großen Population, in der sich alle Angehörigen nach dem Zufallsprinzip paaren können (und in der Migration, Mutation und Selektion nicht stattfinden), die genetischeBeschaffenheit der Population von einer Generation zur nächsten unverändert bleibt. Sogar Hardys vermeintlich so abstrakte Arbeit zur Zahlentheorie – die Untersuchung der Eigenschaften natürlicher Zahlen – fand unerwartet praktische Anwendung. Im Jahr 1973 gelang dem britischen Mathematiker Clifford Cocks unter Anwendung der Zahlentheorie ein Durchbruch in der Kryptographie – der Entwicklung von Codes und Verschlüsselungen. Cocks Entdeckung machte ein weiteres Statement von Hardy hinfällig. In seinem 1940 erschienenen, berühmt gewordenen Buch
A Mathematician’s Apology
(«Verteidigungsschrift eines Mathematikers») verkündete Hardy: «Niemand hat bislang einen kriegstauglichen Zweck für die Zahlentheorie auftun können.» Ohne Zweifel irrte Hardy auch hier. Codes sind für die militärische Kommunikation absolut unerlässlich. Selbst Hardy also, einer der schärfsten Kritiker der angewandten Mathematik, wurde in die Formulierung nützlicher mathematischer Theorien «hineingezogen» (hätte er noch gelebt, hätte er sich vermutlich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt).
    Aber das ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Kepler und Newton entdeckten, dass die Planeten unseres Sonnensystems sich auf Umlaufbahnen bewegen, die die Form von Ellipsen haben – dieselben Kurven hatte der griechische Mathematiker Menaichmos (etwa 350 v. Chr.) zwei Jahrtausende zuvor bereits beschrieben. Die neue Art von Geometrie, wie sie Georg Friedrich Bernhard Riemann (1826–1866) im Jahr 1854 in einem berühmt gewordenen Habilitationsvortrag dargelegt hat, erwies sich als genau das Instrumentarium, das Einstein brauchte, um die Beschaffenheit des Kosmos zu erklären. Eine mathematische «Sprache» namens Gruppentheorie, von dem jungen Talent Évariste Galois (1811–1832) eigentlich nur zu dem Zweck entwickelt, die Lösbarkeit algebraischer Gleichungen zu untersuchen, ist heute zu einer Sprache geworden, die von Physikern, Ingenieuren, Linguisten und sogar Anthropologen verwendet wird, um die Symmetrien der Welt zu beschreiben. Darüber hinaus hat die Entdeckung mathematischer Symmetriemuster in gewissem Sinne den gesamten wissenschaftlichen Prozess auf den Kopf gestellt. Jahrhunderte hindurch hatte der Weg zum Verständnis kosmischen Wirkens mit dem Sammeln von Fakten begonnen, die aus Experimenten undBeobachtungen stammten. Daraus bemühten sich die Wissenschaftler dann durch Versuch und Irrtum allgemeine Naturgesetze herzuleiten. Der Erkenntnisprozess begann mit Beobachtungen vor Ort, dann wurde Puzzleteilchen um Puzzleteilchen zusammengesetzt. Mit der im 20. Jahrhundert gewonnenen
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