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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf
Autoren: Gerry
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Oder war er längst in seine Wohnung geflüchtet? Karls Blick wanderte zu dem »stillen Portier« an der Wand. Hinter einer Glasscheibe befand sich ein hölzernes Gitter mit Schildern: fünf Reihen ä drei Namen. Missmutig begann er sie von oben nach unten zu lesen:
       
    O. Müller
    K. Valentin
    Werner Wolf
    T. Storm
    Johanna von Schlagstöckel
    G. Mork ...
       
    Plötzlich ging das Licht aus. Karl erschreckte sich fast zu Tode, weil die überraschende Verfinsterung mit einem lauten Klacken einhergegangen war. Er wagte kaum zu atmen, während er in den Hausflur lauschte. Plötzlich hörte er über sich ein verdächtiges Knarren. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Er begann zu zittern. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, hier einfach so hereinzuspazieren, wo ihm Grünauge auflauern und ihn – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – massakrieren konnte?
    Als wäre ein ganzes Rudel hungriger Wölfe hinter ihm her, rannte Karl zur Tür, stürzte auf die Straße hinaus und machte sich aus dem Staub.
    ∞
       
    Über der Straße vor dem Antiquariat lag eine trügerische Ruhe. Die Nachbarn hatten sich längst wieder in ihre Wohnungen zurückgezogen. Unter Karls Füßen knirschten Glassplitter, als er in den Laden trat. Irgendjemand hatte das Licht ausgeschaltet. Vielleicht Frau Holle. Karl zitterte immer noch, aber nun eher vor Kälte. Er lief zum Tresen, um seinen Mantel wieder anzuziehen. Gegen die eiskalten Füße – eine seiner Schuhsohlen war durchgelaufen und die andere so dünn wie Pergament – konnte er vorerst nicht viel tun. Während er in den Wintermantel schlüpfte, bemerkte er auf dem Verkaufstisch einen Zettel. Eine handgeschriebene Mitteilung, wie er in dem durchs Schaufenster fallenden Laternenschein gerade noch erkennen konnte. Er lief zum Eingang zurück, um Licht einzuschalten. Dabei knöpfte er seinen Mantel zu. Allmählich strömte neues Leben in seine klammen Glieder.
    »Grüße vom Polizeirevier«, murmelte er säuerlich, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Jemand musste ihm – eine für ihn nicht neue Erfahrung – die Entscheidung abgenommen und die Ordnungshüter herbeigerufen haben. Als sein Blick sich von dem Zettel löste und die Scherben am Boden streifte, durchfuhr ihn ein Stromschlag oder etwas, das sich zumindest so anfühlte. Karl traute seinen Augen nicht.
    Die wie winzige Kristalle funkelnden Glassplitter waren nur etwa zwei Schritte weit ins Geschäft eingedrungen. Als wären sie an eine unsichtbare Mauer geprallt und dann herabgefallen, bildeten sie auf den Dielen eine schnurgerade, glitzernde Linie. Zudem hob sich die Stelle, wo der brennende Läufer gelegen hatte, wie eine Landzunge aus dem glitzernden Glasmeer ab. War denn da noch ein anderer Teppich gewesen? Nein, Karl gestand sich nicht viele verlässliche Eigenschaften zu, aber seine Beobachtungsgabe hatte ihn bisher nur selten im Stich gelassen.
    Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Eine riesige Geheimbibliothek in einem bei weitem nicht so großen Mietshaus, leuchtende und duftende Bücher, ein selbst in der Nacht noch sonnendurchflutetes Fenster, ein mal kurzer, dann wieder langer Laden, ein Brandstifter mit glühenden grünen Augen und nun auch noch diese unsichtbare Schutzwand! Karl fiel keine bessere Bezeichnung dafür ein. Was konnte Tausende umherstiebender Glassplitter und sogar ein schweres brennendes Geschoss mitten in der Luft aufhalten? Trotz angestrengten Nachdenkens fiel ihm keine auch nur annähernd zufriedenstellende Erklärung ein.
    Was sollte er jetzt tun? Den Abend einfach vergessen? Zurückkehren in die leere Wohnung seines kürzlich verstorbenen Vaters? Oder sich im Gästezimmer von Herrn Trutz verkriechen? Er ging zum Beistelltischchen neben dem Ohrenbackensessel und klappte den Aktendeckel auf. Nein, ohne die Unterschrift des Buchhändlers konnte er nicht einfach in dessen private Räume eindringen. Außerdem musste er den Laden beschützen, falls der Brandstifter zurückkehrte. Er würde also die Nacht im Kabinett verbringen, beschloss Karl, gleich hinter dem Durchgang, wo ihn niemand sehen, er selbst aber den Laden im Auge behalten konnte.

    ∞
       
    Ein leises Knirschen ließ Karl aus dem Schlaf hochschrecken. Im Nu war er wach, richtete sich kerzengerade in dem Ohrenbackensessel auf, den er mühsam hinter die Bücherwand geschoben hatte, und lauschte. Im vorderen Teil des Ladens war es dunkel – obwohl er das Licht angelassen hatte!
    Wieder knirschte es. Karl schob
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