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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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von ihm übrig bleiben wird, nichts mehr von meinem Körper, meinen Knochen, und schon gar nichts von meinen Wünschen, meinen Gedanken.
    Da schrie ich.
    Laut und wild.
    Bald erschien Marc Antonius, der eine Taschenlampe auf mich richtete und fragte, was mit dem Licht sei.
    »Kein Strom!«, rief ich. »Kein Strom!«
    Wir rannten los, erreichten das Zimmer meiner Mutter, uns schlug bestialischer Gestank entgegen, es war, als hätte die Verwesung in drei Stunden all das nachgeholt, was man ihr in drei Jahren verwehrt hatte. Als Marc Antonius den Lichtstrahl auf meine Mutter richtete, sahen wir gelbe Flüssigkeit auf ihrer Brust, ihre Augen waren aufgesprungen, eine hässliche Todesfratze. Ich rief »Gott!«, erschrocken über das, wozu ich fähig gewesen war. Dann trafen die Sieben ein und kümmerten sich um meine Mutter. Marc verließ den Raum. Kurze Zeit später sprangen die Apparate wieder an, aber meiner Mutter war nicht mehr zu helfen. Ich trat ans Kopfende und wollte ihr die Augen schließen, doch sie ließen sich nicht schließen, sondern blickten zu mir auf oder durch mich hindurch, als existierte ich nicht, als sei ich tot und nicht sie. Ich drehte mich zu den Sieben um. Eine von ihnen legte mir die Hand auf die Schulter. »Erlösung!«, sagte eine andere. Eine dritte bekreuzigte sich.
    Der Arzt kam schnell, wirkte unausgeschlafen, glaubte die Version von der rausgesprungenen Sicherung, leitete keine Untersuchungen ein, war sichtlich froh, dass meine Mutter nicht noch jahrelang am Strom würde hängen müssen, stellte den Totenschein aus, und alles ging seinen geregelten Gang. Der Bestatter traf ein und bettete meine Mutter in einen Transportsarg, ich sagte ihm, sein Institut solle sich um alles Weitere kümmern, und dann war sie weg, die Mutter.
    Es begann das große Putzen. Ich sagte den Sieben, sie sollten sich fernhalten vom Zimmer meiner Mutter, ich selber wolle alles erledigen. Ich zog Rollläden hoch, riss Fenster auf, schleppte Möbel in den Garten und zündete sie an. Auch das Bettzeug und alle Sachen, die mit meiner Mutter in Berührung gekommen waren, warf ich ins Feuer, und es tat mir gut, den Raum meiner Mutter vollständig zu leeren. Die Sieben beobachteten mich und flüsterten miteinander. Ich schob die Apparaturen aus dem Haus, stellte sie zusammen, abholbereit. Abends kam der Notar, und ich erbte: das Haus, schuldenfrei, das Geld. Mein Vater, lebenslanger Häftling, hatte seinen Besitz der Mutter überschrieben, und meine Mutter alles mir.
    »Die Sieben«, fragte ich Marc Antonius, »wo sind sie?«
    Marc Antonius zuckte mit den Schultern. Ich suchte sie im ganzen Haus, zunächst in ihren Zimmern, dann in allen anderen Zimmern, dann gar im Keller, sie waren nirgends.
    »Verschwunden«, sagte ich zu Marc Antonius, »verschwunden, einfach verschwunden, auf und davon. Vielleicht«, sagte ich, »haben die Sieben ja …«
    Doch Marc Antonius schüttelte nur den Kopf: »Nein«, sagte er, »nicht die Sieben.«
    »Willst du mir helfen?«, fragte ich.
    Da blickte er mich von oben bis unten an und zögerte einen Augenblick, und ich sah, wie er abwog, was dafür sprach, was dagegen, blickte in seine Gedanken, die ihm offen auf der Stirn standen, sah, wie sehr er sich danach sehnte, endlich dieses Haus verlassen zu können, um zu seiner alten Schwester ins Dorf zu ziehen, und ich wusste, ich musste ihn überzeugen. Ich nannte ihm eine Zahl. Er zuckte zusammen. Ich sagte ihm, ich bräuchte seine Hilfe nur selten. Den Rest der Zeit könne er bei seiner Schwester verbringen, im Haus sei ohnehin kein Platz mehr für ihn. Er schien nicht zu verstehen, wovon ich sprach, blickte mich wieder lange an und fragte mich, was genau er denn tun solle. Ich sagte es ihm. Er hörte zu und überlegte lange. Schließlich nickte er.
    Handeln, handeln, handeln. Ich rief umgehend einen Architekten an, Antiquitätenhändler, Möbelschlepper, Müllmänner, und als Marc Antonius das Haus verließ, waren sie alle schon da, Schnelligkeit kann man kaufen. Ich sprach zunächst mit dem Architekten und erklärte ihm, was ich mir vorstellte.
    »Ich wünsche mir«, sagte ich, »Bauarbeiter rund um die Uhr, ab sofort arbeiten hier zwanzig Männer zeitgleich, in drei Schichten, also brauchen wir sechzig Arbeiter, ich zahle das Doppelte des Üblichen.«
    Dann ging ich mit dem Antiquitätenhändler durch die Zimmer. Ich hasste den Mann auf Anhieb. Klein war er, bucklig, dünner Schnurrbart, Brille, lange, klebrige Haare. Gustav Herrenknecht,
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