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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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Menschen, die mit acht Zehen geboren werden? Kommt doch, noch einen Zeh könnt ihr mir nehmen, und ich werde nicht den Mut verlieren.
    Ich würde jetzt gern in den Keller gehen, mir eine Flasche Wein holen und mich schläfrig trinken, aber ich habe Angst vor dem Keller. Und Marc Antonius kann ich nicht noch mal aus dem Bett läuten, er hat meinetwegen schon genug Scherereien gehabt. Es tut gut, Marc Antonius im Haus zu wissen. Er ist zwar sechzig, aber seine Statur! Er überragt mich um einen ganzen Kopf, seine Schultern sind breit. Wenn ich ihn sehe, fühle ich mich sicher. Ich muss jetzt schlafen.
    Ich meine, einen Zwerg gesehen zu haben. Als ich am Morgen aus dem Fenster blickte, zum Waldrand, stand er dort, ich konnte es nicht deutlich erkennen, es schien ein kleiner Mensch zu sein, ein Liliputaner, einer von der Sorte, die im Zirkus den Clown geben müssen, doch als ich ein Fernglas holte, war er verschwunden. Ich wischte mir über die Augen und ging hinunter. Die Sieben hatten ihre Aufgaben verteilt. Zwei wachten über meine Mutter. Eine machte Frühstück. Die vier anderen befanden sich im Haus, irgendwo, ich sah sie nicht, vielleicht schliefen sie noch. Ich frühstückte ausgiebig. Ich war lange nicht mehr bedient worden. Bedienungen habe ich immer schon gehasst, noch als ich hier lebte und nie selber etwas tun durfte. Alles wurde vom Personal erledigt. Ich hatte mir geschworen, mich nie wieder bedienen zu lassen, doch jetzt, mit den Schmerzen im Fuß, hinkend, erschöpft und gerädert, war ich froh, dass eine der Sieben mir den Kaffee hinstellte und sich schweigend entfernte. Sie hätte ja ein Wort mit mir wechseln können, dachte ich. Sie hätte irgendwas sagen, hätte wenigstens fragen können, wie das passiert ist. Sie hat doch den verbundenen Fuß unterm Bademantel gesehen. Aber nein, nichts, kein Wort sagte sie, stumm zog sie sich zurück, als folge sie einem eigens für dieses Haus verfassten strengen Diskretionskodex. Ich schaufelte mein Frühstück in mich hinein, trank Kaffee, obwohl er viel zu heiß war und ich mir beim ersten Schluck die Lippe verbrühte und jeder spätere mir wehtat. Ich las eine Zeitung, die auf dem Tisch lag, aber nichts, was ich las, drang in meinen Geist, ich war viel zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt. Nach dem Frühstück stand ich eine Weile am Fenster und blickte hinaus. Später ging ich nach oben und öffnete den Schreibtisch. Ich weiß nicht, was ich suchte, ich suchte eine ganze Stunde lang, fand aber nichts. Marc Antonius stand in der Tür und teilte mir mit, dass Lauck nicht mehr lebe.
    »Wer ist Lauck?«, fragte ich.
    »Ein Bluthund.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich weiß nicht.«
    »War er alt?«
    »Nein.«
    »Krank?«
    »Nein.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich schätze, er hat etwas gefressen. Etwas Vergiftetes.«
    Ich sagte Marc Antonius, er müsse besser auf seine Hunde achtgeben, er müsse sie ausreichend füttern, damit sie keinen Hunger hätten, wenn jemand ihnen etwas zuwerfe.
    »Wer soll ihnen denn etwas zuwerfen?«, fragte Marc Antonius.
    Ich ließ ihn stehen und zog mich an. Die Leiche des Bluthunds wurde weggeschafft. Ich sah Marc Antonius vom Fenster aus mit einer Schubkarre Richtung Wald fahren, auf der Schubkarre Lauck und ein Spaten. Neben der Schubkarre liefen drei weitere Hunde. Sie wurden vom Wald verschluckt. Ich schlug mir mit der flachen Hand ein paarmal auf die Wangen. Es wurde Zeit, sagte ich mir, es wurde Zeit zu handeln. Ich musste etwas tun. Mein Plan. Mein Plan. Mein Plan.
    Noch in dieser Nacht würde ich es hinter mich bringen. Ich musste nur ein paar Stunden warten, bis die Bewohner schlafen würden, und ich harrte aus, dort oben, am Fenster meines Zimmers, rauchte und starrte in die Nacht, ohne das Fenster zu öffnen. Ich hatte aufgehört, die Zigaretten zu zählen, die ich rauchte, Marc Antonius hatte mir einen ausreichenden Vorrat besorgt. Es war zwei Uhr. Ich warf mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann verließ ich mein Zimmer. Mit Taschenlampe stieg ich ins untere Geschoss, schlich durch die Eingangshalle, öffnete die Tür zum Zimmer meiner Mutter und schob mich hinein.
    Es brannte ein Licht neben dem Bett. Langsam ging ich zu ihr. Sie lag dort friedlich. Ihr Gesicht schien jetzt nicht mehr so blass zu sein. Mit einer leisen Bewegung strich ich ihr über die Wange. Ich hatte das Gefühl, als sei sie kurz davor, ihre Augen zu öffnen. Ich sah die Drähte, Infusionen, Flaschen, hörte ein Ticken von irgendwoher, Monitore
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