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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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schimmerten grünlich. Ich zog die Bettdecke noch ein wenig höher. Sie soll nicht frieren, dachte ich. Ich verließ den Raum und spürte die Kühle der Nacht. Eine Weile stand ich vor Mutters Tür. Dann tat ich endlich, was ich mir vorgenommen hatte: Ich ging hinab in den Keller. Ich muss nicht weit gehen, dachte ich, nur die kurze, wie abgesägt wirkende Treppe hinab, und hinter der Treppe, unten, an der Wand, da werde ich finden, was ich suche.
    Die Tür quietschte ein wenig, aber ich tat rasch den ersten Schritt und knipste das Kellerlicht an. Langsam ging ich nach unten. Ich zählte zwölf Stufen. Alles wie früher. Es lag kein Staub auf ihnen. Unten öffnete ich den Sicherungskasten. Dort war der Hauptschalter, ich legte ihn um. Sofort erlosch das Kellerlicht. Es war nur ein simpler Griff, aber dieser Griff, dachte ich, wird die Welt verändern, wird das Leben verändern, mein Leben in diesem Haus. Einen Augenblick blieb ich in der Dunkelheit stehen. Ich hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich es tun würde, aber jetzt, als es geschehen war, erschrak ich über das, was ich getan hatte. Aber es war ein freudiger Schreck, denn ich sagte mir: Du hast sie erlöst. Im Licht der Taschenlampe ging ich zurück nach oben. Ich schloss die Tür so leise, wie ich sie geöffnet hatte.
    Wieder in meinem Zimmer, atmete ich durch. Niemand hatte etwas bemerkt. Alles im Haus schlief seinen Schlaf. Nur ich war wach. Wach und allein. Wachheit, dachte ich, ist eine Krankheit. Wenn man die Wachheit ausrottet, ist der Welt geholfen. Wenn alle nur schlafen, herrscht Zufriedenheit. Nur weil wir wach sind, geschehen Dinge, die nicht geschehen dürfen. Mein Vater hat viel zu wenig geschlafen in seinem Leben, hat sein Leben lang geackert, um aufzubauen, was er aufgebaut hat. Jetzt ist ihm alles genommen. Für die Entschädigungen hat er seine Firma verkaufen müssen, er hat den Opfern Summen zahlen müssen, die jede Vorstellung übersteigen. Gonzales, Wischnewski, Kuttner und die vierundzwanzig anderen betroffenen Familien sind reich jetzt.
    Ich habe gehandelt, ich habe den ersten Schritt getan, der weitere Schritte nach sich ziehen wird. Ich weiß genau, was ich will. Es ist der einzige Ausweg, die einzige Chance, die ich habe. Plötzlich sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie dort unten liegt und röchelt, sie röchelt sich wach, kommt zum ersten Mal zu sich nach Jahren der Bewusstlosigkeit, wirft die Decke ab und schwebt leise aus dem Bett, ohne den Boden zu berühren, schwebt leise durchs Haus, will sie zu mir? Ich höre sie nicht, wie sie schwebt, ich sehe sie nicht, wie sie schwebt, ich weiß nur, dass sie in mein Zimmer kommt, durch die geschlossene Tür, mich anschaut, mit geweiteten Augen, wimpernlos, ihr Nachthemd reglos am Körper, und sie wartet darauf, dass ich das Fenster öffne, damit sie hinaus kann, fort, für immer, aber ich rühre mich nicht, ich bleibe still, ich öffne das Fenster nicht, kein Sog entsteht, der sie hinauszieht, und meine Mutter, die nicht weiß, wohin, schwebt hoch oben in die Ecke meines Zimmers, wo sie zusammenschnurrt wie ein Luftballon, aus dem man die Luft lässt, und sie wird zu einem kleinen schwarzen Fleck, dort oben in der Ecke an der Wand, diese Stelle, an die ich nicht langen kann. Sie ist ruhig jetzt. Sie wird hierbleiben. Ich kann damit beginnen, sie nicht mehr zu beachten. Schwer wird mir das nicht fallen. Ich schaue einfach nicht hin. Es ist jetzt fünf Uhr. Die Morgendämmerung lässt auf sich warten. So sehr ich mich zu schlafen bemühe, ich kann es nicht.
    Um halb sechs bekam ich Durst, verließ mein Zimmer, schlich die Treppen hinunter. Alles ohne Licht. In der Küche hielt ich inne. Durch die Fenster brach erster Dämmer. Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Kühlschrank zu erkennen, die Küchenmöbel, Tisch und Stühle, die Hängeschränke in den Ecken, den großen Vorratsschrank, die Blumen am Fenster, die Tür, die in den Garten führt. Ich öffnete den Kühlschrank, kein Licht sprang an. Alles blieb dunkel. Meine nackten Füße tappten in eine Lache. Aus den Gefrierfächern tropfte es auf den Boden, die Lache breitete sich aus. Ich sank auf die Knie und sah im zerfließenden Eis das zerfließende Leben meiner Mutter, die jetzt gerade in ihrem Zimmer lag und schon die letzten Augenblicke ihres Lebens gelebt hatte und deren Körper nun schmelzen würde, wie jedes Eis irgendwann zu Wasser schmilzt, und ich dachte, dass auch mein Körper eines Tages schmelzen und nichts mehr
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