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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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sich zu, und sie machen einen Knicks, der Sohn. Sie fürchten mich. Sie fürchten, dass ich den Geldhahn zudrehe, sie fürchten, dass ich sie entlassen könnte. Zum ersten Mal gibt es jemanden, der mich fürchtet.
    Ich betrete das Zimmer meiner Mutter gegen Mittag. Es ist abgeschottet vom Rest des Hauses. Ein geräumiges Zimmer, das viel Luft zum Atmen ließe, wenn sie denn noch atmen könnte, meine Mutter. Es liegt im Erdgeschoss. Man kann vom Zimmer aus direkt in den Garten gelangen. Aber die Rollläden sind fest verschlossen, das Zimmer abgedunkelt, künstliches Licht beleuchtet das Bett, daneben die Apparate. Meine Mutter liegt auf dem Rücken. Als ich sie sehe, fühle ich nichts. Keine Regung, weder Mitleid, Liebe, Sorge noch Wut oder Hass, nichts, in mir ist alles leer. Als wäre ich eine ebensolche Maschine wie die, durch die sie am Leben gehalten wird. Es gluckert irgendwo. Hinter mir verharrt eine der Sieben in der Tür. Ich drehe mich um und scheuche sie mit einer Handbewegung hinaus. Meine Mutter hält die Augen geschlossen. Sie ist eine Körpermasse, die vorm Verwesen geschützt wird. Dabei gibt es Stellen an ihrem Körper, wo bereits Verwesung eingesetzt hat, so jedenfalls sieht es aus, ich meine die Flecken auf ihren Händen. Die Sieben: Alle paar Stunden lagern sie den Körper der Mutter um, jeden Morgen waschen sie ihn, sie überwachen die automatische Fütterung und sitzen reihum an diesem weißen Sarg aus gesteifter, frischer Wäsche und halten die Hand der Nicht-sterben-Könnenden, in der Hoffnung, dass sie nicht so bald sterben wird.
    Ich decke meine Mutter jetzt auf, ich tue es harsch, als risse ich eine staubige Decke von einem eingemotteten Möbelstück, und ich sehe sofort die Krampfadern, violette Blutegel. Ich decke den Körper wieder zu. »Was soll ich tun, Mutter?«, frage ich sie, doch es ist eine mechanische Frage. Ich weiß nicht, was geschieht mit mir, hier, in diesem Haus, in dem ich nicht sein will, aber sein muss, weil ich sonst nirgends sein kann. Kurz bevor ich ihr Zimmer verlasse, ziehe ich die Rollläden hoch. Es wird nur unmerklich heller. Diese dichten Büsche und Bäume rauben dem Licht die Kraft. Wie kann man einen Garten so anlegen, dass er die Sonne aussperrt?
    Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Vielleicht tat ich es nur, weil ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Ich hatte Albträume, schreckte auf, hörte Dinge miteinander flüstern. Ich trank Wasser und öffnete das Fenster. Ich spähte hinaus in die Nacht und ahnte draußen die Anwesenheit meiner Feinde. Ich sah nichts, ich hörte nichts, aber ich spürte ihre Blicke aus der Dunkelheit. Sie könnten, dachte ich, eine Leiter ans Fenster schleppen und von außen zu mir hineinkriechen. Sie könnten über den Keller ins Haus gelangen. Sie könnten die Bluthunde mit präpariertem Fleisch vergiften. Aber warum haben sie noch nicht Ernst gemacht? Dreimal lag ich schon in ihrer Hand. Dreimal hätten sie mir ohne Mühe die Beine absäbeln können. Sie haben es nicht getan. Sie haben es bei Drohungen belassen. Es muss einen Grund geben dafür, dass sie mich verschont haben. Vielleicht wollen Sie meine Angst nur mästen? Ja, sie hatten meinen Vater ins Gefängnis gebracht. Aber ihre Rachgier war längst nicht gestillt. Ihre gesamte Existenz liefe ins Leere ohne die Möglichkeit der Rache. Ohne mich hätten sie nichts, für das sich zu leben lohnte. Niemanden, der ihrem Dasein einen verzweifelten Sinn verlieh. Nähmen sie mir wirklich die Beine, wäre alles vorbei für sie. Sie wollen nicht meine Beine, sie wollen nur meine Angst. Das aber heißt: Sie werden mir nichts tun. Sie hätten mir etwas tun können, dreimal schon hätten sie mir etwas tun können, aber das wollen sie nicht. Ich lachte auf, als ich sie durchschaute.
    Und war mir plötzlich sicher, sicher zu sein.
    Ich zog mich an, ging in die Küche, suchte in den Schubladen nach einer Taschenlampe, verließ das Haus, lief zur Stelle, an der die Verfolger letzte Nacht gehalten hatten, und leuchtete den Boden ab. Sie hatten gewendet, ich folgte den Reifenspuren, lief in die Nacht, rief immer wieder, »los, Leute, kommt doch«, rief die Namen, die ich ihnen gegeben hatte, doch niemand zeigte sich. Die Spuren bogen rechts in einen Waldweg, ich rannte, bis ich ein Leuchten sah, das sich, als ich näher kam, als Lagerfeuer entpuppte. Ich ging ohne zu zögern hin. Niemand saß dort. »Kommt raus!«, rief ich. »Ich weiß, dass ihr da seid!« Nach einer Weile hörte ich,
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