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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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wie vor blickte er zur Tischplatte, auch als er schon stand und den Stuhl zurückgeschoben hatte, auch da noch sah er nach unten, sein Gesicht kräuselte sich auf merkwürdige Weise, und dann musste er einfach nur niesen. Er nieste dreimal. Langsam zog er ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Nase ab. Ich sah, das Taschentuch war blutig.
    Dann verließ er den Raum.
    Ich fuhr nach Hause. Ohne mir etwas dabei zu denken, parkte ich in der Tiefgarage. Als ich aussteigen wollte, drängte mich ein dritter Mann zurück in den Wagen, ich nenne ihn Wischnewski. Er drückte mir etwas vors Gesicht, ich verlor das Bewusstsein, fiel in eine Art Grube mit merkwürdigen Traumbildern. Als ich zu mir kam, lag ich in meinem Bett. Mein Kopf schmerzte. Ich fasste mir sofort an die Beine, tastete meinen Körper ab, alles schien unversehrt. Aber das Gefühl, in ihrer Hand gewesen zu sein, war ekelhaft und klebrig. Ich zog mich aus und untersuchte meinen Körper nach Spuren. Ich fand nichts. Also waren sie zu dritt, mindestens zu dritt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, mein Kopf wollte bersten.
    »Keine Polizei!«, hatte Gonzales gesagt.
    Und ich?
    Gehorchte.
    Instinktiv.
    Ich knetete meine Finger. Für einen Sicherheitsdienst, für jemanden, der auf mich aufpassen würde, Tag um Tag, fehlte mir das Geld. Ich war ihnen ausgeliefert und fragte mich plötzlich, woher sie von meiner Angst wussten, die Beine zu verlieren. Niemand kennt meine Angst, die Beine zu verlieren. Diese Angst, ich liege wehrlos am Boden, und etwas kommt auf mich zugerollt, und das, was da kommt, ist so unglaublich scharf, es rollt über meine Beine, meine Beine werden abgesägt, und die Schmerzen sind so unerträglich, dass ich sie nicht spüre, ich sehe nur mich selbst dort liegen und neben mir die gekappten Beine, sehe den Rumpf, Stumpf ohne Stiele, und daneben die Beine, kurz davor, sich aufzurichten und für immer von meinem Körper fortzulaufen. Die Angst davor, mein Leben lang in einem Rollstuhl zu sitzen und nichts mehr tun zu können ohne die Hilfe von Rädern, die Angst, wieder zurückzumüssen in den Palast meiner Eltern, in das Haus, aus dem ich ausgebrochen war, in die Hässlichkeit all dessen, was ich gehofft hatte, nie wieder sehen zu müssen. Ich strich mir über die Oberschenkel und fluchte, weil ich nicht genügend Zigaretten gekauft hatte.
    In der Nacht wachte ich auf und sah einen Schatten. Das Licht brannte, ich lag auf dem Rücken und ließ meinen Blick langsam Richtung Brust wandern, auf der die zweite Spinne saß. Sie beäugte mich, und als sie sacht die Vorderbeine hob und aneinanderrieb, schnellte meine Hand nach oben und fegte das Tier von der Brust. Es fiepte und flog zwei Meter weit zum Schrank. Ich sprang auf, zog mich an, griff meinen Autoschlüssel, verließ die Wohnung, kam ungehindert zum Wagen und schloss mich von innen ein, nachdem ich überprüft hatte, dass sich niemand auf der Rückbank versteckt hielt. Für einen Augenblick glaubte ich wirklich, fliehen zu können, ich hatte meine Kreditkarte dabei, ich könnte eine Reise machen, ins Ausland, irgendwohin, wo ich vor ihnen sicher wäre, doch als ich von der Tiefgarage hinaus auf die Straße bog, flammten hinter mir die Frontlichter eines Wagens auf, der mich verfolgte, ohne es im Mindesten zu verbergen.
    Ich überlegte nicht lange, es gab nur ein einziges Ziel, zwei Stunden Autofahrt entfernt, und ich blickte zur Tankanzeige. Es schmerzte mich, diesen Weg einzuschlagen, weil ich das Gefühl hatte, das zu tun, was die drei von mir erwarteten, oh, ich kannte all die Abzweigungen, Landstraßen, Dörfer, Ampeln, Ortsschilder, Felder, Wälder, ich kannte all das, was in die Finsternis des Palasts führte, dieser Palast, der dort lag in vollkommener Einsamkeit, der zugewucherte Garten, die Mauer, das Personal, die Mutter im Bett, leblos lebend, ohne Bewusstsein, Maschinen nahmen ihr das Atmen ab, und mehr als einmal dachte ich auf der Fahrt, ich kann es nicht, ich schaff es nicht, ich will nicht zurück in mein Kindheitshaus, dann wieder sah ich in den Rückspiegel und dachte, wohin sonst? Wohin sonst kann ich fahren? Sosehr ich meinen Kindheitsort verabscheute, sosehr sehnte ich mich nach seinen unüberwindbaren Mauern. Wenigstens die, dachte ich, versprechen Schutz und Sicherheit. Mit allem anderen würde ich schon zurechtkommen. Ich bin ja kein Kind mehr, dachte ich. Erinnerungen sind bloß Erinnerungen. Man kann sie verscheuchen wie Fliegen. Ich näherte mich Kilometer um
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