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Intruder 2

Intruder 2

Titel: Intruder 2
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Zöpfen geflochtenem Haar. Sie trug ein bunt besticktes, schon reichlich schäbiges Folklore-Kleid. Ihr Gesicht war das einer Hundertjährigen, in dem zahllose Runzeln, Falten und möglicherweise auch Narben ein abstoßendes Muster bildeten, das an ein Spinnennetz erinnerte, wobei der nahezu zahn- und lippenlose Mund wie die Spinne in seinem Zentrum hockte.
    Ihre Augen waren trüb und hätten die einer Blinden sein können, aber sie konnte ohne Zweifel sehen. Mike konnte ihren Blick wie eine unangenehme, klebrige Berührung fühlen. Sie roch … tot.
    »Es ist wahr«, fuhr die Alte mit einem Nicken fort, obwohl er ihr gar nicht widersprochen hatte. »Als vor dreihundert Jahren die ersten Weißen hierher kamen, da dachten sie, es gäbe keinen Weg nach unten. Sie haben monatelang gesucht, und manche sind bei dem Versuch ums Leben gekommen, aber als sie es endlich geschafft hatten, da fanden sie die Spuren anderer, die vor ihnen da gewesen waren. Lange vor ihnen.«
    Ein Teil von Mikes Bewusstsein registrierte verblüfft, dass er die Worte der Indianerin verstand, obwohl sie in ihrer Mutter-sprache redete. Aber das spielte keine Rolle. Sein bewusstes Denken - und vor allem seine Logik! - waren ausradiert. Er starrte die Alte an. Er hatte sie schon einmal gesehen. Es war die alte Frau aus dem Van. Die Großmutter des Jungen, den er getötet hatte.
    »Es waren Anasazi«, fuhr die Alte fort. »Das Alte Volk, dem dieses Land gehörte, bevor der erste Weiße seinen Fuß an diese Küste setzte.«
    »Was ... was wollen Sie?«, krächzte Mike. Er begann am ganzen Leib zu zittern.
    »Wir waren schon immer hier, weißer Mann.« Die Alte hob eine dürre, arthritisch verkrümmte Hand und streckte sie nach seinem Gesicht aus. Süßlicher Verwesungsgestank schlug Mike entgegen, und er konnte sehen, wie sich unter der perga-menttrockenen, halb durchsichtigen Haut etwas bewegte. »Wir waren hier, bevor es euer Volk gab, und wir werden immer noch hier sein, wenn selbst die Erinnerung an euch schon vergangen ist.«
    »Was wollen Sie?«, stammelte Mike. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
    »Du hast einen von uns getötet«, sagte die Alte. »Du wirst dafür bezahlen.«
    »Es war ein Unfall«, wimmerte Mike. »Ich habe das nicht gewollt, bitte glauben Sie mir!«
    »Du wirst bezahlen«, sagte die Alte. Ihre Stimme war kalt, ohne die geringste Spur einer Drohung oder irgendeines anderen Gefühls. Vielleicht war es gerade das, was sie so schrecklich machte. »Du kannst eurer Gerechtigkeit entkommen, aber unserer entrinnst du nicht. Du und deine Freunde werden den Zorn der alten Götter zu spüren bekommen. Ihr werdet leiden, wie unser Volk gelitten hat, seit ihr hierher gekommen seid.«
    Ihre Hand berührte jetzt fast sein Gesicht. Der Leichenge-stank nahm ihm den Atem, und Mike glaubte zu erkennen, dass es Maden waren, die unter ihrer Haut entlangkrochen. Als sie weitersprach, huschte unvermittelt eine Spinne aus ihrem Mund, lief an ihrem Kinn hinab und verschwand im Ausschnitt ihres Kleides. Mike wurde übel.
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«, wimmerte er. »Ich konnte nichts dafür! Es war ein Unfall! Ich wollte das nicht!«
    »Ihr werdet leiden«, sagte die Alte noch einmal. Dann floss ihr Gesicht auseinander, wurde für einen Moment zu einem konturlosen grauen Fleck und ordnete sich dann neu. Es war jetzt nicht mehr das Gesicht einer hundertjährigen Indianerin, sondern das eines dunkelhaarigen, sehr großen Mannes in den Dreißigern, der Mike mit einer Mischung aus Sorge und misstrauischer Vorsicht ansah.
    »Are you okay?«, fragte er.
    Mike starrte ihn an. Sein Herz klopfte so heftig, dass er spü-
    ren konnte, wie die Adern an seinen Schläfen und am Hals anschwollen.
    »Sir?« Der dunkelhaarige Mann wich vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. »Christ, are you all right? Do you need help?«
    Sein Gesicht blieb, was es war. Aus seinem Mund krochen keine Maden, und er stank auch nicht nach Tod, sondern allen-falls nach Aftershave.
    Mike sah erschrocken nach rechts und links. Der Van hatte nur ein paar Meter entfernt angehalten, und ein junges Ehepaar stieg aus. Weiße, keine Indianer. Kein Kind. Keine alte Frau.
    »Sir?«, fragte der Dunkelhaarige noch einmal. In seiner Stimme war jetzt etwas, das an Panik grenzte.
    »Ich bin in Ordnung«, sagte Mike mühsam. »Es ... es geht schon wieder, danke.« Er erinnerte sich daran, wo er war, und fügte mit einiger Mühe hinzu: »Everything is okay. Thank you.«
    Dem Gesichtsausdruck des
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