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Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Titel: Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
Autoren: Jürgen Domian
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Fluss ist. Das Ich ist irdisch, geformt durch die Zufälligkeiten des Lebens. Das Individuelle ist Produkt seiner Zeit, weiter nichts.
    Also sind wir alle verloren?
    Was meint »verloren«? ...
Nein, verloren ist gar nichts.
    Du sprichst in Rätseln. Gerade hast du gesagt ...

    Nur das Irdische ist verloren. Es ist so unwichtig, dass ich es gar nicht zähle.
    Gesprächspause
    Also gibt es eine Seele?
    Wie ungeduldig ihr Menschen doch seid. Ihr verlangt schnelle Einsichten in gewaltige Geheimnisse. Der Weg dorthin aber ist mühsam. Verstehen und Erkennen brauchen Zeit, Besinnung und Stille. Wir werden auf alles zu sprechen kommen.

2
    Etwa bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war ich Christ. Ich war erfüllt vom Glauben und fand auf alle existenziellen Fragen eine Antwort in der Heiligen Schrift. Und gab mich während dieser Zeit auch damit zufrieden. Sinnkrisen kamen so erst gar nicht auf. Ich wusste, warum ich auf der Welt war. Um nach den Geboten Gottes zu leben, meinen Glauben weiterzugeben, im Sinne christlicher Nächstenliebe zu wirken und gegen das Böse und die Sünde zu kämpfen. Ich hatte eine klare Vorstellung von Recht und Unrecht. Die Wegweiser waren die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Meine Angst vor Tod und Sterben hatte sich auf wundersame Weise aufgelöst. Wusste ich doch nun um das Paradies und dass unser irdisches Dasein lediglich eine Vorstufe zum wirklichen, dem ewigen Leben bedeutet. Auch die Vorstellung, eventuell jung zu sterben, verlor ihren Schrecken. Ich wäre dann ja bei Gott und mein Tod hätte einen, wenn auch für mich nicht begreifbaren, aber höheren Sinn. Nur die Überlegung, meine Eltern könnten aus dem Leben gerissen werden, erschütterte meine Gelassenheit etwas. Diese Sorge allerdings verdrängte ich bald gänzlich. Der Tod als solcher war jedoch nach wie vor ein Thema für mich. Es fing schon damit an, dass ich bei jedem Gottesdienstbesuch, und davon gab es
ungezählte, einen Toten anschauen musste, den man (wie bestialisch) an ein Kreuz genagelt hatte und zur Schau stellte. Zudem war mir klar, dass man sich das Paradies verdienen musste. Bummelei, Sündhaftigkeit, Zweifel könnten eventuell dazu führen, dass man nach dem Tode woanders landen würde. An einem weniger schönen Ort, der in der Bibel detailgenau wie in einem Horrorthriller beschrieben wurde. Die Hölle machte mächtig Eindruck auf mich. War sie doch Synonym für den ewigen Tod und ewiges Leid. Aber es gab eben auch die Hoffnung und die Vergebung der Sünden. Und so hatte ich im Glauben ein sehr festes Gerüst für mein Leben gefunden. Es war sogar so unerschütterlich, dass ich mit Verachtung auf alle anderen Christen blickte, die, meiner Meinung nach, nicht richtig, nicht rigoros, nicht konsequent genug glaubten. Regelrecht ein Dorn im Auge waren mir die Sonntagskirchgänger, denen ich, zumindest den meisten, unterstellte, sie gingen nur aus bürgerlicher Tradition jeden Sonntag in den Gottesdienst, nicht aber aus wirklicher tiefer Verbundenheit mit Jesus Christus. Sah ich sie dann noch in schicken Klamotten oder gar Pelzmänteln in die Kirche einziehen, wallte der Zorn in mir auf. Bis ich eines Tages beschloss, diesem Zorn Luft zu machen. Ich entwarf ein Flugblatt und machte davon etwa zweihundert Kopien. Eine böse Formulierung jagte darin die nächste. Ich beschimpfte die Kirchgänger, dass sie nur aus Spießbürgerlichkeit
jeden Sonntag zur Kirche gingen, und forderte sie auf, zum wahren und lebendigen Glauben zurückzukehren oder schleunigst zu ihm zu finden. Und schon am nächsten Sonntagmorgen stand ich, der Fünfzehnjährige, überpünktlich am Haupteingang unserer Kirche und drückte jedem Gottesdienstbesucher eines meiner Flugblätter in die Hand. Ich kam mir mutig und groß dabei vor und verglich mich ein wenig mit Jesus, der ja auch dereinst die Händler aus dem Tempel getrieben hatte.
    Welche Resonanz meine Flugblätter in der Gemeinde fanden, kann man sich ausmalen. Die Kirchgänger waren empört und ich bekam einen Rüffel vom Pastor.
     
    Ich muss heutzutage öfter an diese Aktion denken. Sie gibt mir eine Ahnung davon, zu welchen Verhaltensweisen fanatische Menschen fähig sind. Seien sie religiös oder auch politisch motiviert. Gott sei Dank hatte ich damals keine Mitstreiter. Wer weiß, wohin das alles noch geführt hätte. So zog ich mich in die Trutzburg meiner eigenen Glaubensvorstellungen zurück und machte es mir dort bequem. Bis zu jenem Tag, als die Fundamente dieser Burg derart
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