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Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Titel: Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
Autoren: Jürgen Domian
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meinen auch noch so größten Feind umarmen und lieben müsste. Nein, so einen Chef-Gott wollte ich nicht, der
sich zudem beleidigt, zornig oder eifersüchtig zeigte, wenn man sich nicht so verhielt, wie er wünschte oder befahl. Dieser Gott war mir zu menschlich, allzu menschlich. Wenn überhaupt, dann hätte mich ein Gott interessiert und beeindruckt, der sagt: »Ich liebe dich, aber was geht es dich an!«
    Ich wollte mir auch kein schlechtes Gewissen mehr einreden lassen, wenn ich etwas »Unchristliches« getan hatte. Allzu oft war ich in den Jahren meines Glaubens an meinen vermeintlichen Unzulänglichkeiten verzweifelt. Und dann hatte das Gewissen erbarmungslos zugeschlagen und mich klein gemacht. Gibt es ein effektiveres Machtinstrument als ein schlechtes Gewissen? Ich glaube nicht. Ich kam mir immer sündig und erbärmlich vor, schämte mich für meine Schuld und bettelte in meinen Gebeten um Vergebung und Gnade.
    So aber konnte sich kein selbstbewusster und freier Geist entfalten, davon war ich absolut überzeugt.
    Ich war es auch leid, zu leiden. Jahrelang hatte man mir eingebläut, dass der Mensch im Leiden Gott am nächsten sei. Nun empfand ich solche Sätze als Hohn. Als ungeheuerlich empfand ich die christliche Überzeugung, dass erst durch die Sünde der Tod in die Welt gekommen sei. Und ebenfalls bis ins Mark provozierte mich die allgegenwärtige Sinnenfeindlichkeit der Christen und des Christentums. Trotz Salomos Hohelied der Liebe im Alten Testament wurden
Erotik und Sexualität immer problematisiert, nie mit Selbstverständlichkeit behandelt, und gar gleichgeschlechtliche Liebe war entweder des Teufels oder sie wurde zähneknirschend gerade mal so hingenommen. Auf diese Weise aber züchtete man verkrüppelte Seelen, davon war ich fest überzeugt. In mir wuchs der Zorn, und ich sah das gesamte Christentum als eine gewaltige Unterdrückung des Natürlichen, Gesunden, Stolzen und Übermütigen.
    Und dann war da noch die Bibel, die Heilige Schrift, die ich so oft gelesen hatte, dass ich einige Passagen fast auswendig konnte. Das Buch aller Bücher. Es war Gesetz für mich gewesen, unanfechtbar und niemals in Frage zu stellen, eben Gottes Wort. Wie viele Zitate ich für alle möglichen Situationen aus dem Hut gezaubert hatte, aber wie oft war ich auch über die Widersprüchlichkeiten der Aussagen ins Grübeln geraten. Jetzt interessierte mich diese so genannte »Heilige« Schrift höchstens noch als historisches Phänomen, keinesfalls aber mehr als Gottesbuch. Und im Nachhinein war es mir unbegreiflich, wie ernst ich die Aussagen genommen hatte und wie glaubhaft mir alles darin Niedergeschriebene erschienen war. Nun hatte ich an allem Zweifel. Was mochten die Überlieferer und Übersetzer ihren Heiligen und Meistern nicht alles in den Mund gelegt haben? Und Jesus schien mir nichts weiter als einer der Berg- und Wiesenprediger, die es zu jenen Zeiten wohl zuhauf gegeben hatte.

    Kurzum – ich konnte einfach nicht mehr glauben. Nicht an Gott. Nicht an Jesus Christus. Nicht an den Heiligen Geist (dessen Funktion ich ohnehin nie richtig verstanden hatte). Und überhaupt, sollte es einen Gott geben, wer sagte mir, dass nicht der jüdische oder der islamische Gott der wahre und einzige Gott war? Vielleicht gab es ja sogar mehrere Götter, so wie die Hindus es glauben. Damit aber wollte ich mich nicht beschäftigen. Das Thema Gott war erledigt. Und ich merkte gar nicht, dass ich von einem Glauben in den nächsten gerutscht war. Hatte ich zuvor fest an Gott geglaubt, so glaubte ich jetzt fest daran, dass es ihn nicht gebe.
     
    Den Tod aber konnte ich nicht leugnen. Der war überall und nicht zu übersehen. Und die landläufige atheistische Überzeugung, dass mit dem Tod definitiv alles zu Ende sei, entsprach nicht meiner Intuition. Irgendetwas in mir sträubte sich gegen diese Vorstellung. Was genau, konnte ich nicht sagen. Vielleicht steckte mein Narzissmus dahinter, der die Vorstellung ewigen Nichtseins nach dem leiblichen Ende nicht duldete. Und so stand mir der Tod geheimnisvoller und bedrohlicher gegenüber denn je. Damit aber wollte ich mich nicht abfinden und suchte Rat und Hilfe bei den großen Denkern der Geschichte. Wie hatten die Philosophen von der Antike bis in die Moderne über den Tod gedacht, ihn erklärt und eingeordnet?

    Ich begann zu lesen, kreuz und quer. Was sehr mühsam war, denn in den Jahrtausenden hatten die Geistesgrößen viel und bisweilen ausschweifend über Sterben, Tod, Seele
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