Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
Gott! Wo sind Sie denn die ganze Zeit …« Ich hatte sie fragen wollen, wo sie gewesen war, denn ich hatte sie seit dem Sturm nicht mehr gesehen. Aber meine Stimme erstarb, denn just in diesem Moment begann sich Iris’ Gesicht zu verändern. Ehe ich wusste, wie mir geschah, sah ich eine Frau vor mir, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
    »Ich finde, du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren«, sagte sie mit einem schweren frankokanadischen Akzent.
    Ich begriff nicht, was sich da vor meinen Augen abspielte. »Iris, ich …«, begann ich, aber sie schnitt mir das Wort ab.
    »Nicht Iris, Kind. Es wird langsam Zeit, diese Maskerade zu beenden. Mein Name ist Martine.« Sie lächelte, wobei sich die Spuren des Alters in ihrem Gesicht wie von Geisterhand glätteten, und die tiefen Furchen wichen rosiger, glatter Haut. Sachte fuhr sie mit einer schmalen Hand durch ihr Haar und schüttelte das Grau heraus, bis es ihr lang, kastanienbraun und glänzend über den Rücken fiel. Dann beschrieb sie eine Drehung, sodass ihr jetzt ein leuchtend grünes Kleid um ihre Beine schwang.
    »Welch ein wundervolles Gefühl, diese Verkleidung endlich ablegen zu können!«
    Martine? Ich lehnte mich gegen einen Grabstein, weil ich fürchtete, meine Beine würden gleich unter mir nachgeben. Eigentlich wollte ich etwas sagen, konnte aber keinen zusammenhängenden Satz formulieren. Ich wollte nur noch weglaufen, fort von dieser Frau, so weit mich meine Füße trugen. Aber wo sollte ich schon hin? Ich konnte nicht fliehen, ich musste mir anhören, was Martine mir zu sagen hatte.
    »Als Iris damals zusammen mit ihrer unglücklichen Cousine von der Klippe stürzte, nutzte ich die Gelegenheit sofort.« Martine lächelte.
    »Wie bitte?« Meine Stimme klang rau. Wovon sprach sie da?
    Martine strich ihr Kleid glatt und rümpfte die Nase. »Hannah war absolut ungeeignet, meine drei Kinder großzuziehen! Es war mein Fehler, denn ich hätte einer so schwachen Person nicht mit einem Zauber helfen dürfen.«
    Mir wurde eiskalt. » Deine Kinder?«
    »Hallie, nichts für ungut, aber du bist manchmal wirklich etwas naiv. Natürlich waren sie ein Teil von mir . Ich habe Hannah schließlich zu ihnen verholfen! Es waren genauso meine Kinder wie ihre. Aber als ich sah, was sie den Mädchen angetan hatte – meinen drei Süßen –, musste ich eingreifen, ehe sie den anderen, die später nachfolgen würden, auch noch Schaden zufügen konnte.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wie meinst du das, ›du musstest eingreifen‹?«
    »So, wie ich es sage! Ich griff ein. Ich hatte vorgehabt, die Insel zu verlassen; ich hatte genug von all diesen reichen, hochnäsigen Damen, die auf der Straße über mich hinwegsahen, aber dann heimlich an meine Hintertür geschlichen kamen, wenn sie etwas von mir wollten. Doch dann sah ich, wie unfähig Hannah als Mutter war. Sie war ganz allein schuld am Tod der Mädchen! Und ich wusste, dass sie dank meiner Kräuter immer wieder Kinder empfangen konnte. Es musste also etwas geschehen. Jemand musste die Kinder beschützen. Als die arme Iris dann von der Klippe stürzte …«
    Ich sog zischend den Atem ein. »Iris starb an jenem Tag auch?«
    »Nein, Kind.« Martine schüttelte den Kopf. »Sie fiel in die Tiefe, genau wie ihre Cousine. Aber ich rettete sie. Ich wusste, was ich dazu brauchen würde, um unerkannt im Haus leben und über meine Kinder und Enkel wachen zu können, also schlang ich ihren Körper wie einen Umhang um den meinen. Wie ich schon sagte, Kind: Ich griff ein.«
    Meine Augen wurden groß.
    Martine schüttelte lachend den Kopf. Ihr langes Haar wehte im Wind. »Ich bin die Hexe des Sommertals, Kind! Solche Dinge fallen mir nicht schwer.«
    Ich ließ mich schwer auf den Boden neben dem Grab sinken und versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. »Du hast über all die Jahre Iris’ Gestalt angenommen?«, flüsterte ich endlich.
    Sie nickte. »Ich musste doch auf sie achtgeben. Auf Charles, auf Maddie, sogar auf die Mädchen. Ich hatte ihnen den Weg in diese Welt geebnet, also trug ich auch die Verantwortung für sie.«
    Ein Anflug von Zorn wallte in mir auf. »Große Mühe, mich zu beschützen, hast du dir jedenfalls nicht gegeben!«
    »Dich?« Wieder lachte Martine hell auf. »Du brauchtest meinen Schutz nicht. Du warst stärker als alle vor dir zusammen. Und mir so ähnlich. Deswegen konntest du die drei Plagegeister auch vertreiben. Kurz nachdem du die Insel verlassen hast, bin auch ich gegangen. Schau dir diesen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher