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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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bist hart im Nehmen und außerdem nicht in der Arktis...
    Als ich das Dammhäuschen erreichte, war der Punkt überschritten, an dem die Kälte nicht mehr auszuhalten war. Meine Welt hatte sich auf meine Füße reduziert. Ich merkte nicht mal, dass ich das Fahrrad einfach fallen ließ und mich auf den Betonrand des Hausfundamentes hockte. Ich war einzig darauf fixiert, mir in einer Eile den Schnee von den Füßen zu wischen als handle es sich um ätzende Säuere.
    Ich spürte mit den Fingern, dass eisige kleine Klumpen zwischen den Zehen steckten, und begriff erst jetzt, dass ich es dort aber nicht spürte. Alles Wischen und Reiben half nichts. Ich verlor wertvolle Zeit. Ich musste weiter.
    Und immer noch war ich ruhig, so durch und durch besonnen und einzig auf die Lösung des Problems konzentriert – darauf, zu retten, was zu retten war. Ich stand auf meinen gefühllosen Füßen und schaute mich um.
    Schnee, so weit das Auge reichte: auf dem Damm, unter dem Damm, davor und dahinter. Es machte keinen Unterschied, ob ich umkehrte oder weiter meiner Richtung folgte. Ich steckte ohne Socken und ohne Schuhe mitten in einer weitläufigen Winterlandschaft.
    Wie zum Teufel hatte ich nur in diese Situation geraten können? Mein Weg hierher war bis auf die letzten Minuten so unbeschwert und heiter gewesen, er passte überhaupt nicht zum Ergebnis. Ich kam mir vor, wie in einen Alptraum katapultiert.
    Und in diesem Alptraum war der Schnee nicht mal das größte Problem. Zwischen meinem Standort und der anderen Seite des Damms lag der Wasserüberlauf des Moorteiches. Im Sommer war dieser Überlauf ein fröhlich plätscherndes Rinnsal, das mit zwei, drei Schritten über die freiliegenden Steine zu überwinden war. Das Fahrrad trug ich dabei meistens, aber ich konnte es auch durchs handbreit tiefe Wasser schieben.
    Jetzt, zum Höhepunkt der Schneeschmelze, war aus dem freundlichen Wildbach ein zehn Meter breiter, knietiefer und reißender Strom geworden. Die Steine waren überschwemmt und, da dick mit Moos bewachsen, teuflisch glatt und glitschig. Unterhalb des Damms streckte sich zwar ein Steg über den Bach, aber der war notdürftig zusammengezimmert, moderte seit Jahren vor sich hin und war von den Wassermassen dieser Rekordschmelze womöglich längst fortgespült.
    Ich ließ es drauf ankommen, packte das Fahrrad, rannte damit in den Schnee und hindurch und achtete nicht auf meine schreienden Füße. Von der wasserfernen Seite des Damms sah ich den Steg. Er klebte an einem gartenhausgroßen Felsen, um den das Wasser in reißenden Wogen herumschwappte, und schien intakt. Aber natürlich waren auch die Serpentinen des Wanderweges, der über den Damm hinunter führte, dick von Schnee bedeckt und nicht mal zu ahnen. Ich zögerte nicht, da ich gar nicht zögern konnte, riss das Fahrrad hoch, schulterte es und machte mich auf direktem Weg an den Abstieg.
    Von diesem Moment an kommt mir das, was ich über den weiteren Ablauf weiß, nicht wie die Erinnerung an reale Geschehnisse vor. Ich sehe zwar alles klar vor mir, aber mein Handeln scheint mir wie fremdgesteuert, als habe ein Automatismus des Unterbewusstseins meinem Bewusstsein die Kontrolle abgenommen und dafür gesorgt, dass ich barfuß und mit dem Fahrrad beladen durch glitschigen Schnee diesen Steilabstieg bewältigte, ohne auch nur einmal auszurutschen.
    Der Steg bestand aus zwei rohen, armdicken Baumstämmen, über die quer ein paar Brettchen genagelt waren, von denen die meisten durchgebrochen, abgerissen oder halb herabhängend eine Überquerung zum Seiltanz machten. Dicht darunter rauschte der reißende Schmelzwasserstrom.
    Ich balancierte, das Fahrrad über den linken Stamm schiebend, barfuß über den glitschigen, viel zu schmalen, halb vermoderten, wackelnden und sich durchbiegenden rechten Stamm, stützte mich dabei rechts am eiskalten, feuchten Felsen ab und war immer noch so unglaublich ruhig. Alles ging so automatisch und so traumwandlerisch sicher.
    Der Bach war wie eine Wetterscheide. Drüben angekommen, war ich dem weißen Tod so gut wie entronnen. Meine tauben Füße meldeten mir, dass ihnen Steine und rissiges Wurzelwerk gar nicht gut taten, aber immer noch besser als Eis und Schnee!
    Ich hatte es geschafft, begriff nicht, wie, aber letztlich spielte es auch gar keine Rolle mehr. Auf dem Forstweg stellte ich das Fahrrad ab, wischte mir notdürftig Tannennadeln, Dreck und Schneereste von den Füßen, schlüpfte in die nassen, rutschigen Sandalen, stieg auf und
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