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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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schleimige Tauschnee an Reifen, Bremsbacken und Felgen, es quietschte erbärmlich, aber die Bremsen griffen kaum. Zum Glück lief der Weg am Waldteich in eine lange, ebene Gerade aus, und ich konnte die Räder rollen lassen.
    Das beruhigte mich so lange, bis ich zu langsam wurde und anfangen musste zu treten. Das Hinterrad rutschte dabei weg, ich geriet ins Schlingern und musste abspringen, um nicht umzufallen. Meine Füße versanken bis zu den Knöcheln in der wässrigen Schneepampe, und nur mit Mühe brachte ich das Fahrrad zum Stehen, ohne umzukippen.
    Ich hielt mich nicht lang mit einer Situationsanalyse auf. Weiterfahren war unmöglich, ebensowenig konnte ich mit den nackten Füßen im Schnee stehen bleiben, also musste ich schieben, und zwar schleunigst.
    Ich schwang mich vom Fahrrad und lief los. Schon bei den ersten zwei, drei Schritten verlor ich beide Sandalen, denn sie hatten keinen Riemen um die Ferse, blieben im Schnee stecken und rutschten mir bei jedem Schritt vom Fuß. Ich zog sie aus den Schneelöchern meiner Trittspuren, steckte sie mit den Schlaufen über die Lenkergriffe und fing an zu rennen. Meine Füße taten höllisch weh – einerseits durch die Kälte, andererseits durch den rauen, krustigen Schnee.
    In diesem Moment, so lange ich von Vorwärtsdrang beseelt und in Bewegung war, dachte ich wohl überhaupt nichts. Der schneebedeckte Weg war ein Hindernis, und ich war im Begriff, es zu überwinden.
    Erst als ich nach etwa 100 Metern eine kleine Grasinsel erreichte, begriff ich, dass ich in Schwierigkeiten war. Ich begriff es nicht mit einem Erschrecken, nicht mit Angst oder Panik – es drang nur einfach zu mir durch, während ich hektisch das Fahrrad auf den Ständer stellte, mich daran abstützte und, jeweils auf einem Bein balancierend, den Schnee von meinen Füßen wischte, sie rieb und massierte.
    Zehen und Fußsohlen waren pelzig. Meine Hände waren eiskalt, aber immer noch wärmer als meine Füße – das merkte ich an den Händen, aber mit den Füßen spürte ich alles nur gedämpft, wie durch eine zweite Hornhaut. Und ich begriff, ganz nüchtern und klar, dass ich im Begriff war, mir die Füße zu erfrieren, einfach so, an einem warmen Sonnentag in unmittelbarer Nähe einer bundesdeutschen Großstadt in einem Wald, der nicht Wildnis war, sondern Naherholungsgebiet.
    Noch heute, wenn ich an diesen Moment zurückdenke, staune ich darüber, wie gelassen ich in dieser Situation blieb, obwohl doch die Möglichkeit bestand, dass ich an einem radikalen Scheideweg in meinem Leben stand: mit erfrorenen Füßen und womöglich amputierten Zehen kein Sport-Abitur, kein Sport-Studium, ein Leben als Krüppel - durch puren Leichtsinn gepaart mit Trotz.
    Ich musste hier weg, sofort.
    Weiter also, weiter, weiter!
    Der Moorteich war zu Zeiten der Flößerei künstlich angelegt worden, und meine Grasinsel lag am Rande des etwa 50 Meter langen Damms. Mitten auf dem Damm stand ein Wasserregulierungshäuschen, und genau dort, rings um das leicht erhöht gebaute kleine Steinhaus mit Holzlattendach, erspähte ich eine weitere Grasinsel inmitten des ansonsten lückenlosen Tauschnees.
    Ohne weiter nachzudenken rannte ich los. Mit den halb erfrorenen, nur notdürftig trocken geriebenen Füßen wieder in den Schnee zu treten, weckte vom Schmerz abgesehen Gefühle in mir, die ich nur schwer beschreiben kann. Eine Art Alarmsignal war das, ein tief in den Erbanlagen sitzender Warnruf, dass ich meine Füße vom Schnee unbedingt fernhalten sollte, dass sie Wärme brauchten, um zu überleben, aber keinesfalls weitere Kälte.
    Mein Verstand versteifte sich darauf, wenn ich nur schnell genug rannte, dann würde mir warm werden, aber so funktionierte das nicht, nicht in dieser Situation. Ab einem gewissen Grad von Kälte kam der Körper mit der Wärmeproduktion nicht nach, auch nicht, wenn er auf Hochtouren lief. Und ob die Füße nun den Schnee beim Rennen nur kurz berührten oder darin standen, spielte keine Rolle, denn das kalte Zeug klebte an ihnen und steckte zwischen den Zehen.
    Ich ahnte mit meinen Urmenschensinnen und wusste aus dem Biologie- und Sportunterricht, dass mein Körper nun begann, Notmaßnahmen zu ergreifen: Blut aus den Extremitäten abziehen, um den Körperkern warm zu halten – die Extremitäten opfern, um das nackte Leben zu erhalten.
    Derweil leugnete der sonnige Teil meines Gemüts meine Situation und versorgte mich mit beruhigenden Fakten: bist nicht weit von zu Hause, bist jung und gesund,
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