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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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cholerischen Ausbrüche berüchtigt ist. Mithilfe einer Schar zumeist britischer Mitarbeiter vermisst er die Grundline im Dun-Tal, den Abschluss des Großen Bogens, den er nun nur noch mit der Station im zentralindischen Sironj verbinden muss.
    Als er ein Jahr später die Siwalik-Berge überquert, um seine Messungen in der Ebene abzuschließen, hat seine Karawane die Ausmaße eines kleines Heeres. Everest wird begleitet von einer Entourage, deren Zusammensetzung in dieser Reihenfolge aufgezeichnet ist: zwei Assistenten, drei Unterassistenten, vier Elefanten, zweiundvierzig Kamele, dreißig Pferde und »an die siebenhundert Eingeborene«. Der Umfang dieses Trosses spiegelt die stetig gewachsene Bedeutung wider, die die britische Krone dem Unternehmen beimisst, das er leitet. Und den zweifelhaften Ruhm, den Everest nicht selten auf Kosten anderer errungen hat.
     
    Während Everest und seine Leute die Berge einfach nach ihren Bedürfnissen zurechtgestutzt haben, kämpfe ich die halbe Nacht mit dem Relief der Siwalik-Höhen. Der kleine Fleck, auf dem ich meinen Schlafsack ausgebreitet habe, ist abschüssig. Immer wieder rutsche ich in die dornigen Sträucher, die ihn begrenzen.
    Am Morgen werde ich von Gekreisch geweckt. Eine Horde Rhesusaffen tobt durch das nahe Gebüsch. Ich raffe meine Sachen zusammen, bevor die Tiere auf die Idee kommen können, über meinen Proviant herzufallen. Ein massiger Graurücken folgt mir bis hinauf auf die Straße. Hunderte
Meter läuft er über den Asphalt hinter mir her. Die Szene erinnert mich an meine Kämpfe mit den Hunden des indischen Südens.
    Unterhalb des Passes wird der Weg steil. Autos rasen vorbei, Koffer und Matratzenrollen sind auf die Dächer gezurrt, den Kennzeichen nach kommen sie vor allem aus Delhi. In einer Haarnadelkurve übergibt sich eine Frau aus einem entgegenkommenden Überlandbus. Ich ducke mich erfolgreich.
    Durch die ersten, niedrigen Zedern erklimme ich die Passhöhe. Auf die Grenze zum Bundesstaat Uttar Khand ist ein Tempel gepflanzt, vor dem eine lange Reihe von Kleinwagen parkt. Urlauber kaufen Kokosnüsse und Blumenketten, um der Göttin Lakshmi Ehre zu erweisen. Sie betätigen eine überdimensionale Klingel, bevor sie das Heiligtum betreten. Ich esse zwei Packungen Glukosekekse und hoffe, es werden die letzten auf meiner Reise sein.
    Dann nehme ich leichtfüßig die vorletzte Zielgerade. Das schlaglochlose Asphaltband läuft sanft bergab. Der Wald auf den letzten zehn Kilometern nach Dehra Dun wirkt schattig, feucht und europäisch. Die subtropische Vegetation jenseits des Passes ist auf dieser Seite voll und ganz mächtigen Zedern gewichen, die Affen sind pelzig und dick. Am Nachmittag erreiche ich endlich Dehra Dun.
    An der zentralen Kreuzung finde ich ein komfortables Zimmer. Ich blicke über gefegte Bürgersteige und schwarz-gelb bemalte Kantsteine durch Fensterscheiben, die so dick sind, dass ich vom frühabendlichen Stoßverkehr nur ein schwaches Rauschen wahrnehme. Ein Gewirr von Strommasten wächst über den flachen Hausdächern in den Himmel. Aber dort, wo sich eigentlich die schneebedeckten Berge erheben müssten, erkenne ich auch von hier aus nichts als ein paar niedrige, bewaldete Hügel. Der Himalaya bleibt mir noch verborgen.

Der Stand der Dinge
    Am Abend ist unter dem kolonialen Uhrturm von Dehra Dun der gesamte indische Subkontinent versammelt. Bettelnde Zigeuner halten vor McDonald’s ihre Hand auf. Auf gefegten Bürgersteigen feilschen südindische Schulmädchen mit Gebetsmützenträgern um den Preis für frische Weintrauben. Breitbeinige Männer aus den Bergen in groben grauen Wollhosen statten sich mit Plastiktüten voller Reis und Mehl aus. Im Café von Barista Lavaaza stimmt ein junger Mann mit Westerngitarre die Heimwehschnulze » Carolina in My Mind « an. Aber ich will alles andere als nach Hause. Ich fühle mich wohl in dieser zusammengepuzzelten Stadt, durch die ein Wind der Liberalität weht.
    Ich unterhalte mich mit einem aus Nepal stammenden Händler, der Ritterrüstungen schweißt und in die ganze Welt exportiert. Er ist in Islamabad aufgewachsen. Seine Familie lebt von Bhutan bis Kaschmir über den südlichen Himalaya verstreut. Ich diskutiere mit freundlichen muslimischen Friseuren, die mir für zu viel Geld Kopf- und Barthaare scheren, über den Film Slumdog Millionaire , der gerade im Kino anläuft.
    »Findet ihr es gut, dass ein Europäer Bombays Dreck aufwirbelt? «
    Sie reagieren generös: »Auch das ist die
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