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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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pedantischen Großunternehmens. Ich lese Formulierungen wie » The Barometer has been kept at 9 chains (9 x 60 feet) «, womit der viel gerühmte Geodät festhielt, dass alle sechzig Fuß beim Messen einer Grundlinie die Höhe über dem Meer per Luftdruck gemessen wurde. Ich lasse mir von Renuka Kisten aus dunklem Holz zeigen, in denen Barometer und Kompasse und die Encycolpedia of Himalayan States lagern, ein dicker Wälzer zwischen gelben Buchdeckeln. Meine Begleiterin ist sichtlich stolz auf das Erbe der britischen Geodäten. »Dies ist nicht weniger als die wissenschaftliche Basis des Survey of India«, sagt sie. »Wir haben den Briten viel zu verdanken.« Sie erklärt mir die heutigen Aufgaben des Survey: Kartografie und Landvermessung, aber auch Tidevorhersagung und Antarktisforschung. »Wir nennen den Great Trigonometric Survey kurz GTS. So ähnlich wie GPS. Denn auch für das Global Positioning System haben Everest und Lambton uns die Grundlagen geliefert.«
    Ich frage sie, was nach der Teilung Indiens passiert ist, ob Pakistan an dem wissenschaftlichen Vermächtnis aus der Kolonialzeit beteiligt worden sei, ob das Nachbarland wenigstens jenes Material bekommen habe, das sich auf sein Staatsgebiet bezieht.
    »Nein«, sagt sie. »Die meisten Karten wurden nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 nach Indien geschickt. Wir haben die Kollegen vom Survey of Pakistan 2002 zum zweihundertsten Jubiläum des GTS eingeladen. Aber es ist keiner gekommen.« Sie lacht.
    Meine Führerin bewegt sich wie ein umsichtiger Elefant durch die Sammlung kolonialer Raritäten. Sie präsentiert mir
die Instrumente anderer Expeditionen. Die Gebetstrommel, in der die von den Briten geschulten Inder, die im 19. Jahrhundert als buddhistische Mönche verkleidet Tibet vermaßen, ihre Aufzeichnungen verbargen. Die altertümlichen Sauerstoffmasken irgendeiner kolonialen Hochgebirgsexpedition. Sie zeigt hinüber in die Bibliothek, eine Halle voller alter Wälzer in wandhohen Holzschränken. »Hundertfünfzigtausend Schriftstücke lagern wir dort. Die ältesten sind von 1780. Die Briten haben auch die kulturelle Geschichte niedergeschrieben«, sagt sie. »Von den Brahmanen, von den Muslimen, von der Bauernkaste der Jats.«
    »Und wie war ihr Verhältnis zu den Einheimischen?«
    Renukas Begeisterung versiegt umgehend. Sie schlägt sich in einer seltsamen Geste mit der offenen Rechten auf die Faust. »Die britischen Wissenschaftler haben viele indische Frauen geheiratet. Aus allen möglichen Kasten. Aber sie haben keine richtige Ehe mit ihnen geführt. Sie haben immer auf sie hinabgeschaut. «
    Wir stehen vor einem kleinen Theodoliten, den Everest selbst entworfen hat. Renuka dreht das Fernrohr mit einer fast zärtlichen Geste einmal um 360 Grad. »Everest war ein fähiger, durchsetzungsstarker Mann. Und er soll sehr stattlich gewesen sein. Aber er war auch arrogant und gemein.« Er habe zurückgezogen gelebt in Hathipaon, in den Bergen über der Stadt. »Dort oben konnte er ungestört von seinen Mitmenschen die verschneiten Gipfel beobachten.«
     
    Am nächsten Tag bin ich endlich auf dem Weg hinauf in den Himalaya, nach Hathipaon. »Elefantenfuß« heißt der Name übersetzt. Am Vorabend hat der Amerikaner Jack mich vor Tigern gewarnt. »Ich würde da nicht laufen. Vor ein paar Monaten wollte ich nach Mussoorie wandern. Aber die Leute
haben gesagt, dass da ein Maneater unterwegs ist. Ich habe mich entschlossen Bus zu fahren. Wenige Tage später hat ein Tiger zwei Menschen in einen Dorf in den Bergen getötet.« Ich schlage seine Warnungen in den Wind.
    Die Rajpur Road windet sich durch die Villengegend im Nordosten der Stadt. Ich durchquere sanfte Hügel und eine kleine Schlucht. Plötzlich stehe ich vor einer Wand. Vor einem gewaltigen Bergsockel, mehr als tausend Meter hoch, ein faltiger, kahler Hang. Ganz oben, auf einem Grat unter dem tiefblauen Himmel, hängt eine Stadt, die Sommerfrische Mussoorie.
    Die Straße steigt in Serpentinen an, gesäumt von dürrem Bambus. Ein kühler Wind kommt auf. Aus Löchern in den Felsen, die mit rot-weißer Warnfarbe lackiert sind, sprießen junge Bäume. Vor dem klotzigen Gebäude des buddhistischen Sakya-Colleges springen zwei Langurenaffen auf die Straße. Eine Gebetsfahne flattert zwischen zwei Zedern. Die Landschaft wirkt jetzt wie eine spanische Sierra. Hunderte Zypressen stehen den Berg hinab Spalier wie zum Abschuss bereite Raketen. Hier und da liegen kleine Terrassenfelder am Hang.
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