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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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gemischt mit süßem Ingwertee. Die beiden Ausländer treffe ich auch an diesem Tag nicht.
    Am Morgen darauf geht es mir deutlich besser. Die Antibiotika scheinen ihre Wirkung zu entfalten. Ich mache mich wieder auf den Weg. Alles kommt mir herbstlich vor, obwohl es Anfang Februar ist. Ein Wind fährt durch die Alleebäume und Zuckerrohrfelder, das Rauschen klingt hart und metallisch. Die Bäume quietschen. Zuckerrohrpressen tuckern vor Häckselbergen. Süßlicher Dampf steigt über den Fabriken auf. Verkäufer haben Honiggläser auf Tischen aufgebaut, abgefüllt in alte Rum- und Whiskeyflaschen. Aber niemand kauft etwas.
    Nach einem langen Tag erreiche ich müde, aber stolz, es trotz Erkältung geschafft zu haben, die Stadt Shamli, ein Konglomerat niedriger Wohnhäuser an breiten Straßen und endloser Basare, auf denen kaum etwas anderes als Früchte und Haushaltswaren angeboten werden, so als würden die Bewohner des Umlands keine weiteren Konsumbedürfnisse haben. Wieder warnt mich ein Mann vor den Gefahren seiner Heimat, ein schlanker älterer Hindu: »Seien Sie vorsichtig«, sagt er und steigt von seinem Rad, um es auf meinem Weg durch die Innenstadt neben mir herzuschieben. »Hier wimmelt es von Räubern.« Ich versuche von ihm zu erfahren, warum die Gegend so kriminell sei. »Es sind die Muslime«, behauptet er.
    Das Hotel in Shamli ist eine furchtbare Absteige. Die Zimmer gehen direkt von einer langen Zufahrt ab, einer Art Garage, zwischen deren engen Backsteinmauern ein verstaubter Kleinwagen millimetergenau Platz gefunden hat. Es gibt nur kaltes Wasser, die Kloschüssel ist zersprungen und die grünen Wände der fensterlosen Zelle sind schimmelig. Aber ich schlafe selig durch wie ein Kind.
     
    An den folgenden Tagen klingt meine Erkältung ab. Mit zusammengebissenen Zähnen und unter hohen Dosen des Schmerzmittels schaffe ich mein Pensum, 25 bis 45 Kilometer am Tag. Die Dörfer an der einspurigen Landstraße wirken immer sauberer, je weiter ich mich von Delhi entferne. Die Bewohner hocken in Wolldecken auf Holzbetten, die Böden der kleinen Höfe sind gefegt. Auch die Tiere tragen Decken. Selbst ausgewachsene Büffel und Rinder sind fürsorglich in Jute gehüllt. Die Einheimischen schauen mich nur indirekt an, wenn ich ihre Dörfer durchquere. Ich kann ihre Blicke im Rücken spüren. Frauen mit dick aufgetragenem Lippenrot unter dem dünnen Schleier lächeln diskret von Motorradrücksitzen
an mir vorbei. Nur ein paar kleine Kinder laufen johlend hinter mir her.
    Am vierten Abend nach meinem Aufbruch in Delhi bietet mir ein freundlicher Muslim mit Palästinensertuch und Vollbart in dem Ort Thana Bhawan einen Übernachtungsplatz in seinem Straßenrestaurant an. Wir schlafen nebeneinander auf Holzbetten hinter heruntergelassenen Rollläden.
    Als ich Saharanpur erreiche, eine Stadt rund 150 Kilometer nördlich von Delhi, ist meine Erkältung endgültig vorbei. In den grau vernebelten Straßenzügen finde ich ein feines Hotel, vor dem die Lichterketten im Wind klappern. Ich lege mich umgehend in die heiße Badewanne, verspeise dort ein Chop Suey und trinke einen Liter schwarzen Tee.
    An diesem Abend lese ich in der Hindustan Times von der Entführung eines Industriellensohns. Der Vorfall liegt nur zwei Wochen zurück. Der Fünfzehnjährige wurde in Saharanpur entführt, der Vater zahlte drei Millionen Rupien Lösegeld. Aber die Polizei konnte die Entführer nicht aufspüren. Der Junge wurde in einem Jutesack im Fluss Dhamola gefunden. Aber nicht die muslimische Bevölkerung, vor der ich gewarnt wurde, wird in dem Artikel für die Unsicherheit in der Region verantwortlich gemacht. Sondern die Untätigkeit und Inkompetenz der Polizei.

In die Berge
    Zwei Tage trennen mich noch von meinem Ziel Dehra Dun. In der Nacht habe ich vom Himalaya geträumt, von seinen mächtigen, schneebedeckten Bergen, steil erhoben sie sich aus der indischen Ebene. Aber jetzt laufe ich durch das absolute Nichts. Der Nebel ist hier, weit im Norden des Subkontinents, so dicht, dass ich nicht mehr sehen kann als die Reisfelder rechts und links der Straße, aus denen die ersten völlig laublosen Bäume ragen.
    Gegen elf Uhr hat die Sonne den Dunst vom nassen Erdboden getrennt. Jetzt scheint sie hin und wieder fahl hinter fliehendem Hochnebel hervor. Dicke Tautropfen fallen von Eukalyptusriesen auf meine Nase. Am Straßenrand wachsen mediterrane Kakteen. Ungeduldig spähe ich nach Norden. Aber die Gipfel tauchen nicht auf: nur flaches Land,
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