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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
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Schmuckanhänger herab. »Der Regenvogel ist ein typisches Wandeltier. Wenn sich die Lebensverhältnisse im Tideland ändern, wenn das Meer ansteigt und den halben Kontinent überschwemmt, paßt er sich in seiner Erscheinung an.« Plötzlich tauchte Chu beide Hände tief in das Goldfischglas. Der Vogel wehrte sich heftig und verschwand in einem Wirbel aus Blasen und Sand.
    Der Illusionist hob die Hände aus dem Wasser. Der Bürokrat bemerkte, daß er nicht einmal nasse Ärmel bekommen hatte.
    Als das Wasser klar wurde, schwamm darin aufgeregt ein bunter Fisch, der lange Schwanzflossen hinter sich herzog. »Schauen Sie!« rief Chu. »Der Sperlingsfisch - in der Sommergestalt ein Flugtier, im Winter ein Wassertier. Eines der Wunder, welche die Natur hier für uns bereithält.«
    Der Bürokrat applaudierte. »Ausgezeichnet gemacht«, sagte er mit einem Anflug von Ironie.
    »Ich zeige auch Zauberkunststücke mit einem Behälter voll flüssigem Helium. Zersplitternde Rosen und dergleichen.«
    »Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Sie sagten, Sie verfolgten mit Ihrer Demonstration eine bestimmte Absicht?«
    »Gewiß.« Die Augen des Illusionisten glitzerten. »Und zwar folgende: ich wollte zeigen, daß es sehr schwer sein wird, Gregorian zu fangen. Er ist ein Zauberer, verstehen Sie, und er ist im Tideland geboren. Er kann seine Gestalt verändern oder die seiner Feinde, wie es ihm paßt. Er kann mit Gedanken töten. Wichtiger noch, er kennt sich hier aus, und Sie nicht. Er kann seine Macht gegen Sie wenden.«
    »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Gregorian ein Zauberer ist? Daß er übernatürliche Kräfte hat, meine ich.«
    »Das wollte ich damit sagen.«
    Angesichts dieser fanatischen Gewißheit fehlten dem Bürokraten die Worte. »Ähem ... Ja. Ich danke Ihnen für die Warnung. Was halten Sie davon, wenn wir uns jetzt an die Arbeit machen?«
    »Natürlich, Sir, sofort, Sir.« Der junge Mann faßte sich erst an die eine Tasche, dann an die andere. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde gequält. In verlegenem Ton sagte er: »Äh ... ich fürchte, ich habe meine Unterlagen im vorderen Laderaum gelassen. Wenn Sie sich einen Moment gedulden würden?«
    »Natürlich.« Der Bürokrat versuchte seine Genugtuung über das Unbehagen des jungen Mannes zu verbergen.
    Als Chu gegangen war, wandte sich der Bürokrat wieder dem vorbeiziehenden Wald zu. Das Luftschiff schwang sich empor und beschrieb eine Kurve, dann neigte es den Bug und sank in die Tiefe. Der Bürokrat erinnerte sich daran, wie er es zum erstenmal in Port Richmond gesehen hatte, als es in schiefem Winkel angelegt hatte. Mit seinen Schwanzflossen, Aufzügen und Hebeplattformen transzendierte das gewaltige Luftschiff irgendwie seine antiquierte Häßlichkeit. Es war ganz langsam heruntergeschwebt, anmutig, mit donnernden Rotoren. Sein Bauch war von Klettfliegen bedeckt, und Ankertrossen hingen vom Maul herab wie Riementang.
    Wenige Minuten später machte der Leviathan an einem Heliostatenturm am Rande des staubigen kleinen Flußstädtchens fest. Eine einsame, in makelloses Weiß gekleidete Gestalt kletterte eine Strickleiter hinauf, dann legte der Heliostat wieder ab. Niemand war ausgestiegen.
    Die Salontür öffnete sich, und eine schlanke Frau in der Uniform des inneren Abschirmdienstes trat ein. Sie näherte sich dem Bürokraten und reichte ihm ihre Papiere. »Verbindungsleutnant Emilie Chu«, sagte sie. Und nach einer Pause: »Sir? Fühlen Sie sich nicht gut?«

2 - Hexenkulte der Weißmarsch
    Gregorian küßte die alte Frau und stieß sie von der Felswand. Mit zuckenden Gliedmaßen stürzte sie kopfüber ins kalte graue Wasser. Als sie aufschlug und tief in die Dünung tauchte, spritzte weißer Gischt. Sie kam nicht wieder hoch. In einiger Entfernung hob sich etwas Dunkles, Schlankes aus dem Wasser, das an einen Otter erinnerte, dann tauchte es und verschwand.
    »Das ist ein Trick«, sagte der echte Leutnant Chu. Auf dem Bildschirm verblaßte Gregorians Gesicht: massig, lebenserfahren, zuversichtlich. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Sei das, wozu du bestimmt bist. Nach der fünften Wiederholung hatte der Bürokrat den Ton abgestellt, doch er kannte die Worte inzwischen auswendig. Leg ab deine Schwäche. Wage es, ewig zu leben. Der Werbespot endete und fing wieder von vorne an.
    »Ein Trick? Wie das?«
    »Ein Vogel kann sich nicht von einem Moment zum anderen in einen Fisch verwandeln. Ein solcher Umwandlungsprozeß braucht Zeit.« Leutnant Chu
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