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Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne
Autoren: Thomas Jeier
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1 Donnervogel
    Das Krächzen eines großen Donnervogels drang durch die Nacht. Seine schwarzen Flügel hoben sich unheilvoll gegen den Mond ab und warfen einen dunklen Schatten auf das Tipi des Schamanen. Niemand sah den Vogel, seine flammenden Blitze erhellten nur den Traum des alten Sieht-hinter-die-Berge. Ein Windstoß fegte durch das Dorf und ließ die Zeltplanen flattern. Die beiden Pferde, die vor dem Tipi angebunden waren, scharrten unruhig mit den Hufen, und die Hunde zerrten an den Leinen. Eine tiefe Stimme geisterte durch die Nacht und rief den Namen des Medizinmannes.
    Sieht-hinter-die-Berge schreckte aus dem Schlaf. Er rieb sich den Schweiß von der Stirn und stützte sich auf die Ellenbogen. Die Glut der Feuerstelle warf einen roten Schein auf sein Gesicht und ließ die langen weißen Haare leuchten. Seine dunklen Augen brannten. Was war geschehen? Er spannte seine Sinne an und starrte in die Dunkelheit. Als keine Antwort kam, stimmte er ein leises Lied an. Er hatte keine Angst vor den Geistern, weil er mehrmals am Tage betete und regelmäßig zum Fasten in die Berge ging. Aber er spürte eine innere Unruhe und wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Geister waren sehr empfindlich. Vielleicht hatte irgendjemand im Dorf ein Tabu verletzt oder die Geister auf andere Weise erzürnt.
    Er stand auf, öffnete die Zeltklappe und ging nach draußen. Irgendjemand hatte ihn gerufen. In einem Traum, an den er sich nicht mehr erinnern konnte und von dem er nicht wusste, ob er gut oder schlecht gewesen war. Ich werde alt, dachte er bekümmert, es wird Zeit, dass sich ein anderer um das heilige Bündel kümmert, und ich in meinen letzten Sonnenuntergang reite.
    Sieht-hinter-die-Berge hatte mehr als siebzig Winter gesehen, aber immer noch keinen würdigen Nachfolger gefunden. Hatten sich die Geister endlich entschieden? Hatten sie einen jungen Mann gefunden, der das zweite Gesicht hatte und die Heilkraft aller lebenden Dinge kannte? Hatten sie ihn deshalb geweckt?
    Er blieb nachdenklich stehen. Ein lauer Nachtwind wisperte in den nahen Weiden am Flussufer und kühlte den Schweiß auf seinem Gesicht. Einige Pferde schnaubten und stampften nervös mit den Hufen, als hätten sie denselben Traum wie der alte Mann gehabt. Aus dem Nachbartipi drang das laute Schnarchen von Büffelhöcker, der bis in die späte Nacht mit einigen Freunden getanzt hatte. Das Trommeln war laut gewesen, und der eintönige Gesang hatte den alten Schamanen lange wach gehalten. Sieht-hinter-die-Berge wohnte allein in seinem Tipi, und die jungen Krieger hatten viel zu viel Respekt vor ihm, um ihn zu einem Fest einzuladen. Manche hatten sogar Angst vor ihm. Er war der alte Mann mit den vielen Falten im Gesicht, der mit den Geistern sprechen konnte und sah, was auf der anderen Seite der Berge geschah. Er entdeckte die Büffel, bevor der erste Krieger aufgeregt ins Dorf geritten kam, und er spürte ein Gewitter, bevor der Donnervogel seine brennenden Pfeile auf die Erde schleuderte.
    Er ging ein paar Schritte, blieb dann stehen, um wieder zu lauschen. Das Schnarchen war immer noch zu hören, und auch die Pferde waren nicht ruhiger geworden. Auf der Westseite des Dorfes war Babygeschrei zu hören, und er sah den Schatten einer Frau, die mit ihrem Kind in den nahen Wald verschwand, um die anderen nicht zu stören. Ein Bussard zog krächzend über das Dorf und badete im bleichen Licht des halben Mondes. Er rief etwas, aber der Schamane verstand ihn nicht. »Was willst du mir sagen, Bussard?«, fragte er, aber der dunkle Nachtvogel glitt über ihn hinweg.
    Sieht-hinter-die-Berge hatte gelernt, seiner inneren Stimme zu folgen, wenn ihn etwas beunruhigte. Alles im Leben hatte seinen Sinn. Die Geister hätten ihn niemals geweckt und aus seinem Tipi gelockt, wenn es keinen Grund dafür gab. Er ging weiter und verließ das Dorf, das unweit eines kleinen Flusses in einer Senke errichtet worden war. Nach alter Sitte waren die Zelte in einem Halbkreis errichtet worden, dessen offene Stelle nach Osten zeigte. Dort ging die Sonne auf, die von den Hügelleuten als Ursprung des Lebens verehrt wurde. Er hatte keine Waffen dabei. Er vertraute dieser inneren Stimme, die ihm sagte, dass es keine Anzeichen für einen nächtlichen Überfall gab. Die Ho-he waren weit nach Norden gezogen, und die Shar-ha waren vor zwei Wintern vernichtend von den Hügelleuten geschlagen worden und hatten sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Er lächelte, als er an die blutige Schlacht
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