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In tiefster Dunkelheit

In tiefster Dunkelheit

Titel: In tiefster Dunkelheit
Autoren: Debra Webb
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rückte ihre Brille zurecht.
    Seit wann trug sie eigentlich eine Brille? Er kniff die Augen zu und kämpfte gegen einen Anflug von Melancholie an. Dass sie tatsächlich hier war, erstaunte ihn immer noch. Und machte ihm Angst. Im Grunde hatte er erwartet, dass sie seine Bitte ablehnen würde. Doch sie hatte alles stehen und liegen lassen und war hergekommen.
    Nach dieser Nacht vor zehn Jahren – die Erinnerung daran hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt – hätte er es ihr nicht übel genommen, wenn sie ihn abgewiesen hätte.
    Zwanzig Jahre lang hatte er ihren beruflichen Werdegang aus der Ferne verfolgt. Jessie Harris war die Karriereleiter des FBI hochgesaust wie ein Feuer einen Berghang in der trockensten Periode im August. Laut seinem Kontaktmann in der hiesigen Zweigstelle gehörte sie zu den cleversten Profilern in ganz Quantico. Sie besaß die natürliche Fähigkeit, die Motive eines ihr gänzlich Fremden mit unheimlicher Genauigkeit zu durchschauen.
    Vor ein paar Jahren hatte er dann aufgehört, sich nach ihr zu erkundigen. Er musste sich um sein eigenes Leben kümmern. Zwei gescheiterte Ehen, das waren zwei zu viel. Er hatte Annette getroffen und beschlossen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und eine richtige Familie zu gründen.
    Nur war es so nicht gekommen. Annette war zu ihrem Ex zurückgekehrt, und damit endete die Geschichte. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieser Fall war viel zu wichtig, er durfte jetzt nicht abgelenkt sein. Eine Pause war überfällig, wie ihm klar wurde. Sein Verstand brauchte dringend eine Pause. Doch so verlockend der Gedanke auch war, diesen Luxus konnte er sich nicht leisten.
    »Meine Herren«, sagte Jess laut und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, dann hielt sie kurz inne. »Und Detective Wells«, ergänzte sie mit einem knappen Nicken zu dem einzigen anderen weiblichen Mitglied der Sonderkommission. »Ich habe für Sie ein vorläufiges Profil erarbeitet. Sie finden es dort auf dem Tisch.« Sie zeigte auf den säuberlichen Stapel gehefteter Blätter in der Mitte des Besprechungstisches.
    Auf jedem Deckblatt prangte das Logo BPD , Birmingham Police Department, nicht das des FBI . Logisch. Jess war ja nicht in offizieller Eigenschaft hier. Dan fragte sich, wie ihr Mann es wohl fand, dass sie ihrem ehemaligen Liebhaber so bereitwillig zu Hilfe eilte. Der Ehering, den sie trug, war schlicht, kein auffälliges Schmuckstück. Trotzdem hatte er den zarten Goldreif sofort bemerkt, als er sie in seinem Vorzimmer stehen sah.
    Konzentrier dich, Dan.
    Der Stapel wurde herumgereicht. Die letzte Kopie des Profils landete in seinen Händen. Er schlug das Deckblatt auf und hielt inne. Blätterte eine Seite um, dann noch eine. Alle sahen gleich aus. »Die Seiten sind leer.« Was zum Teufel tat sie da?
    Patterson, Griggs und die beiden Detectives starrten wie Dan erst auf die makellos weißen Seiten herab und dann die Frau an, die vor ihnen stand.
    Sie wartete mit den Händen in den Hüften, bis das Gemurmel verstummte. Dann deutete sie auf die Blätter in ihren Händen und sagte: »Das ist das Profil, das ich aufgrund der Ermittlungsergebnisse erarbeiten konnte, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben.«
    Dan öffnete den Mund, um eine Erklärung zu verlangen, doch sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Wenn Sie«, sagte sie mit einem anklagenden Seitenblick auf ihn, »mich hergerufen haben, damit ich Ihre Arbeit für Sie tue, dann haben Sie Ihren Charme und meine Geduld stark überschätzt.«
    »Was soll das heißen, Donnerwetter noch mal?«, verlangte Griggs zu wissen.
    Roy Griggs machte schon zu lange Polizeiarbeit, um sich von irgendwem herumkommandieren zu lassen, auch nicht von Quanticos Spitzenprofiler. Dan fiel es schwer zu glauben, dass Jess so eine Nummer abzog, ohne etwas damit erreichen zu wollen. Es musste einen Grund geben.
Und besser einen guten.
    Jess nickte dem dienstältesten Cop zu. »Haben Sie noch etwa zwei Minuten Geduld, dann erkläre ich es Ihnen mit Vergnügen.«
    Dan entspannte sich. Seine Lippen zuckten, doch er verkniff sich das Lächeln. Der Fall hatte nichts Lustiges, verdammt. Es lag an ihr. Er hatte fast vergessen, wie gern sie sich mit den Autoritäten anlegte – mit jeder Art von Autorität. Mehr als zwei Jahrzehnte im Nordosten hatten sie nicht sehr verändert. Sie kleidete sich eleganter, aber hinter der schicken Fassade war sie immer noch die alte Jess, darauf würde er
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