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In tiefster Dunkelheit

In tiefster Dunkelheit

Titel: In tiefster Dunkelheit
Autoren: Debra Webb
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er ihr schon am Telefon erklärt, aber sie musste es noch einmal hören und dabei seine Augen, seinen Gesichtsausdruck sehen.
    Sein Anruf, seine Stimme hatten Erinnerungen und Gefühle geweckt, die sie lange für tot und begraben gehalten hatte. Seit dem Sommer nach ihrem College-Abschluss hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, bis sie sich dann, vor zehn Jahren, zufällig im Publix in Hoover getroffen hatten. Es verblüffte sie noch immer, dass sie bei all den zahllosen Geschäften rund um Birmingham ausgerechnet im selben Lebensmittelladen gelandet waren, und das auch noch, als sie zum ersten Mal die Feiertage bei ihrer Familie verbrachte. Er war gerade frisch geschieden von seiner zweiten Frau. Jess hatte eine Beförderung zu feiern. Eine gefährliche Mischung, vor allem wenn noch der Rausch der Feiertage dazukam und die nostalgische Erinnerung an ihre explosive Beziehung. Das Dessert, das sie eigentlich noch in letzter Minute vor dem Dinner mit der Familie ihrer Schwester hatte kaufen wollen, hatte es nie bis auf den Tisch geschafft.
    Seitdem hatte Jess nichts mehr von ihm gehört. Trotzdem konnte sie ihm kaum vorwerfen, nach spontanem, wildem Sex einfach abgetaucht zu sein – sie selber hatte schließlich auch keinen Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten.
    »Es muss eine Verbindung geben.« Sein Blick wanderte wieder über die fröhlichen, sorglosen Gesichter auf den Fotos. »Dieselbe Altersgruppe. Alle attraktiv. Intelligent. Keine Vorstrafen, nirgendwo aktenkundig. Die Zukunft – eine leuchtende Zukunft – lag vor ihnen. Und niemand in ihrem Familienkreis, keiner von ihren Freunden glaubt, sie könnten abgehauen sein.« Er tippte auf das Foto des vierten Mädchens. »Andrea Denton kannte ich persönlich. Es ist unmöglich, dass sie einfach so spurlos verschwunden ist. Unmöglich.«
    Zwei Dinge fielen ihr auf, als er seine leidenschaftliche Erklärung abgab: Erstens, er trug keinen Ehering. Zweitens, er kannte Nummer vier nicht einfach nur persönlich. Er kannte sie gut. Wie gut, das war die Frage.
    »Jemand hat sie entführt«, sagte er mit Nachdruck. »Sie alle.« Seine Miene wurde für den Bruchteil einer Sekunde weich. »Ich kenne deinen Ruf als Profiler. Wenn jemand uns helfen kann, diese Mädchen zu finden, dann du.«
    Jess merkte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem echten Lächeln hoben, und das Stirnrunzeln, das schon seit Tagen auf ihrem Gesicht lag, verschwand. Sie hatte absolut nichts, worüber sie lächeln konnte, und doch löste sein Kompliment diese Reaktion bei ihr aus. »Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, Chief.« Hier mit ihm zusammenzusitzen, während er aufmerksam auf sie heruntersah, fühlte sich viel zu vertraut … zu persönlich an. Sie erhob sich, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Und leider können selbst die Besten nicht auf nichts aufbauen, und mehr scheinst du bisher nicht zu haben.«
    »Ich will ja nur, dass du es versuchst, das ist alles. Diese Mädchen«, er zeigte auf die Akten, »haben ein Recht darauf, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht.«
    Da würde sie ihm nicht widersprechen. »Du kennst die Statistiken.« Falls sie tatsächlich entführt worden waren, waren die Chancen, sie lebend zu finden, minimal – wenn es hoch kam. Das einzig Positive, das sie bisher sah, war, dass sie keine Leiche hatten.
Noch nicht
.
    »Ja.« Er senkte den Kopf mit einer müden, traurigen Bewegung, die den ernsten Ton in seiner Stimme noch unterstrich.
    Irgendwann würde sie erfahren, was er verschwieg. Sicher, niemand gestand gern ein, dass es nichts gab, was man tun konnte, wenn jemand vermisst wurde, zumal wenn es um Kinder oder junge Erwachsene ging. Aber diese Getriebenheit, dieses beharrliche Bestehen darauf, dass es sich um ein Verbrechen handelte, das ging über normales menschliches Mitgefühl und berufliches Pflichtbewusstsein weit hinaus. Sie spürte seine Unruhe und seine Sorge wie Vibrationen, die stetig stärker wurden.
    »Und die Kollegen ziehen mit?« In ein Hornissennest zu stechen, weil sie jemandem in sein Revier pfuschte, würde ihre ohnehin komplizierte Lage nur verschlimmern. Darauf konnte sie gut verzichten. Sobald die Neuigkeit die Runde machte, würde sie schon genug Ärger haben.
    »Sie ziehen mit. Du hast mein Wort.«
    Jess kannte Daniel Burnett schon ihr ganzes Leben. Er glaubte, dass mehr hinter dem scheinbar zufälligen Verschwinden dieser Mädchen steckte, als auf den ersten Blick zu sehen war. Wenn seine Gefühle nicht
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