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In tiefster Dunkelheit

In tiefster Dunkelheit

Titel: In tiefster Dunkelheit
Autoren: Debra Webb
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marschierte zum Haupteingang des Birmingham Police Departments. Dort blieb sie noch einmal stehen, zögerte kurz, dann riss sie die Tür auf und präsentierte dem Security-Posten ein Lächeln. »Guten Morgen.«
    »Ihnen auch einen guten Morgen, Ma’am«, erwiderte der Wachmann – Elroy Carter laut des Namensschildes, das an seinem Hemd steckte. »Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen? Ihre Tasche können Sie hier ablegen.« Er zeigte auf den Tisch neben sich.
    Jess reichte ihm ihren Ausweis und stellte ihre Tasche wie angewiesen ab, damit er sie durchsuchen konnte. Da sie schon seit Jahren keine Ohrringe mehr trug und der schlichte Goldring, der aus irgendeinem ihr selbst schleierhaften Grund noch immer an ihrem Finger steckte, keinen Alarm auslöste außer dem in ihrem Kopf, passierte sie anstandslos den Metalldetektor und wartete auf der anderen Seite auf ihre Tasche.
    »Genießen Sie Ihren Aufenthalt in der magischen Stadt, Agent Harris.« Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht des großen Mannes.
    Wahrscheinlich ein Expolizist im Ruhestand und unverkennbar Südstaatler durch und durch. Er war sichtlich stolz auf seine Arbeit, die jetzige wie die frühere, und seine Brieftasche steckte vermutlich voller Fotos seiner Enkel. Nur eines war ihm nicht sofort anzusehen: ob er Auburn- oder Alabama-Fan war. Im September allerdings würde das so offenkundig sein wie das tiefe Braun seiner Augen. Denn hier in Alabama machte die Footballsaison selbst aus engsten Freunden erbitterte Gegner.
    »Danke, Mr Carter.«
    Bitte, Danke und Willkommen – das gehörte im Süden zu den Traditionen, an denen nicht gerüttelt wurde. An einem Fremden vorbeizugehen, ohne ihn zumindest anzulächeln, kam, was Etikette anging, gleich hinter Blasphemie. Sich über die Angelegenheiten eines Nachbarn oder Kollegen auf dem Laufenden zu halten galt auch nicht als Neugier oder gar Einmischung. Ganz und gar nicht. Es wurde sogar erwartet. Denn es geschah selbstverständlich aus reiner Sorge.
    In spätestens vierundzwanzig Stunden, vermutete Jess, würden Spekulationen über ihren Karriereverlauf das beherrschende Thema des Bürotratschs sein. Dann würde es nicht mehr lange dauern, und man warf ihr mitleidige Blicke zu, lächelte sie aufmunternd an und tat so, als wäre alles bestens.
    Bestens. Bestens. Bestens.
    So gern sie es auch vermieden hätte, ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen – dass es ihr erspart blieb, war ungefähr so wahrscheinlich wie zweimal am selben Tag von Satellitentrümmern getroffen zu werden. Sobald die Nachricht bei der Associated Press eintraf, würde sich die gesamte Presse darauf stürzen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
    Ihr Leben war eine Katastrophe. Sie bezweifelte, dass irgendetwas je wieder
bestens
sein würde. Doch das war im Moment irrelevant. Sie war als Beraterin in einem Fall hier – einem Fall, der nicht darauf warten würde, dass sie die Scherben ihres Lebens aufsammelte oder ihre Wunden leckte.
    Jess schob ihre Sorgen beiseite, wappnete sich und ging zu der Reihe von Aufzügen, die sie in den vierten Stock bringen würden.
Zu ihm.
    Keins der Gesichter, die sie sah, kam ihr bekannt vor. Weder der Wachmann, der sie abfertigte, noch einer seiner Kollegen, die die Eingangshalle überwachten, noch die Frau, die mit ihr zusammen im Aufzug nach oben zur Dienststelle des Birmingham Police Departments fuhr.
    Sobald die Türen zuglitten, musterte die Frau verstohlen Jess’ Füße in den zehn Zentimeter hohen Mary Janes, inspizierte den Abstand zwischen dem Saum ihres Bleistiftrocks und ihren Knien sowie die Lederumhängetasche, die sie sich selbst zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Als der Augenkontakt unausweichlich wurde, setzte sie ein schwaches Lächeln auf, eine oberflächliche Nettigkeit, die überspielen sollte, dass sie gerade die Konkurrenz abgecheckt hatte.
Wenn sie wüsste.
    Der Aufzug hielt mit einem Ruck. Die Frau ging als Erste hinaus und schlenderte den langen Flur nach rechts hinunter. Jess’ Ziel lag geradeaus vor ihr. Das Büro des Polizeichefs. An der Tür überprüfte sie noch einmal ihr Erscheinungsbild in der Glasscheibe, zog die Jacke mit dem Gürtel gerade und zupfte sich ein blondes Haar vom Revers. Sie sah aus … wie immer. Oder nicht? Sie ließ die Hand sinken.
    Sah sie wie eine Versagerin aus? Wie die Frau, die gerade einem abscheulichen Killer eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte verschafft hatte und der der Ehemann abhandengekommen
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