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In stillen Nächten

In stillen Nächten

Titel: In stillen Nächten
Autoren: Till Lindemann
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Texte noch fulminant redigiert hätten, das mag sich der ein oder andere Leser nun womöglich nachträglich wünschen (zu spät, zu spät), weil immerhin einige dieser Gedichte wie formale Ordnungswidrigkeiten erscheinen. Wer das hier finden will, wird es finden: kaputte Reimschemata, kaputter Rhythmus, den einen oder anderen Quasi-Schüttelreim. Und inhaltlich: sexuelle Ausbeutung, Altersdiskrisminierung und und und … Überhaupt: Wer faire Gedichte lesen will, der wird enttäuscht sein Haupt neigen und dann leise weinen. Wer allerdings stattdessen gut aufpasst, der wird reich beschenkt. Er wird feststellen, dass das lyrische Ich in diesen oft wütenden Texten der Leserin wie dem Leser in jeder Zeile vor allem doch sein eigenes, zartes Herz auf dem Tablett serviert.
     
    Ich habe Till mal als den King Kong der deutschen Gegenwartskultur beschrieben. Auch in diesen Gedichten nun wütet ein unempfindlicher, aber übersensibler Berserker mit seiner geliebten Blondine in den Pranken durch die Städte oder meinetwegen auch als last action hero des Freibeuterwesens über die Weltmeere. Wer hätte die Schreie nach Liebe von King Kong denn je mit – eben – Liebe beantwortet? Sterben soll das Viech. Mit Till, und in diesem Satz mal mit Rammstein, kann die Antwort dieses Viechs also nur lauten: Ich bin enttäuscht. Für Ungeheuer jener Art, wie sie auch Till in diesem Buch vom Leben erzählen lässt, gibt es einen Satz des ungeheuerlichen Georges Simenon. Ich habe diesen Satz mal vor eine Sammlung von Interviews gestellt, denn was all diese Menschen, die ich zu Gesprächen traf, gemeinsam hatten, war ihr trauriger, komischer, aber eigentlich immer zerstörerischer Kampf gegen das Unglück ihrer Existenz: »Der Mensch ist derart schlecht für das Leben ausgerüstet, dass man fast einen Übermenschen aus ihm machen würde, wenn man in ihm einen Schuldigen statt ein Opfer sähe.«
     
    Nein, zu redigieren gab es da gar nichts. Aber natürlich haben wir zusammen daran gearbeitet, das waren jeweils nur Winzigkeiten, Auslassungen, neue Überschriften. Ich war mit Rammstein im Sommer 2012 einige Wochen für eine Reportage des SZ Magazins quer durch die USA unterwegs. Ich erinnere mich neben den sengend heißen Konzerten vor allem an: Tills wirklich pathologische Schüchternheit, wenn ihm Fans vor die Füße liefen. Sowie an seine regelrechte Panik, wenn ihm Journalisten vor die Füße liefen. Und ich erinnere mich an nicht weniger heiße Nachmittage mit Till in Hotelanlagen an der Pazifikküste, in Denver, Dallas, Phoenix oder San Antonio. Seltsam winzige Wüstenvögel starrten von den Kanten der Pool-Bar-Tische in unsere Augen. Es gab eiskaltes Budweiser, das man schon ausschwitzte, wenn man es noch gar nicht getrunken hatte. Leise las Till ein paar Zeilen, in seinen Laptop starrend, dann klapperte er auf der Tastatur, fletschte zufrieden die Zähne und las noch einmal, diesmal lauter.
    Ich sagte: »Die zweite Version ist irgendwie besser, lapidarer. Ich frage mich nur grad warum?«
    Till: »Weil der Reim jetzt kaputt ist. Der Rhythmus am Ende des Gedichts ist nun im Eimer. Und das ist schön.«
     
    Der letzte Akt der Herstellung fand dann im Frühsommer 2013 in einer Küche in München-Schwabing statt. Da saßen Till, sein jahrzentelanger Freund, der Zeichner Matthias Matthies, und ich. Es wurden mehrere Liter Kaffee weggesoffen, es lagen dazwischen Blätter über Blätter mit Tills Gedichten in jeweils schon wieder minimalst veränderten Versionen. Und: es lagen da nun außerdem Mattis’ rabenschwarze Zeichnungen. Nie kommentieren diese Zeichnungen Tills Gedichte, sie versehen diese Gedichte vielmehr mit einer irgendwie geheimen, hingezeichneten, zweiten Melodie.
     
    Mir kommt dieses Finale in München vor wie die Reprise unseres ersten Abends in Berlin Jahre zuvor. Wenn man so will, war der schlichte Karton mit seinen Texten, der mal auf meinem Berliner Hotelbett gestanden hatte, in München zu dem geworden, was die Gezeiten an Land gespült hatten: die Lyrik eines großen Schiffbrüchigen unserer Tage.
     
    München, im Sommer 2013

Sinfonie
    Götzendienst an meinem Ohr
ihr Violinen ihr Trompeten
laßt mich leben hoch und tief
ist das Loch in meinem Arsch
Hereinspaziert

Sinn
    Ihr Leute seht her
mein Leben scheint schwer
stehle und lüge
verrate und betrüge
doch morgen werd ich früh aufstehen
mit Schätzen in den Süden ziehen

Das Experiment
    Alle bleiben stehen
Alle wollen es sehen
Seht nur seht
In Flammen steht
Die
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