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In seinem Bann

In seinem Bann

Titel: In seinem Bann
Autoren: Anaïs Goutier
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absolut zuwiderlaufender Gedanke war: er hat mich nicht vergessen!
    Der zweite war, das Paket umgehend und unausgepackt an den Absender zurückzuschicken.
    Doch wie schon im Fall der Blumen siegten meine Neugier und mein Pragmatismus. Das Porto wäre mir schlicht zu teuer gewesen und außerdem hätte ihn die Rücksendung wohl auch kaum erreicht. Er wäre vermutlich schon längst in seinem nächsten Hotel in einem anderen Land gewesen.
    Ungeduldig puhlte und riss ich das Paketklebeband ab. Ein Buch. Genauer ein Ausstellungskatalog.

    Habe heute die Cindy-Sherman-Schau im Contemporary Arts Center gesehen und musste an dich und deine Arbeit denken.
    Ian

    Wieder kein Wort zu viel. Keine Anrede, keine herzliche Floskel, keine Grüße. Aber er hatte an mich gedacht und es für nötig befunden, mir das mitzuteilen. Auch wenn die gänzlich unpersönliche, stenographisch anmutende und auf einen Briefbogen des Grand Reed New Orleans vermerkte Notiz einen schalen Beigeschmack verursachte, freute ich mich über den frisch erschienenen Katalog, den ich mir anderenfalls hätte über den US-amerikanischen Buchhandel bestellen und entsprechend lange auf die Lieferung warten müssen. Cindy Shermans Fotoserien, in denen sich die Künstlerin meist kostümiert und bis zur Unkenntlichkeit verfremdet in unzähligen Rollenbildern und Geschlechterklischees selbst inszenierte, sollte ein ganzes Kapitel meiner Habilitationsschrift gewidmet werden.
    Was Ian Reed betraf, so war es ihm gelungen, dass ich wieder vermehrt an ihn dachte. Es hatte eine weitere Verknüpfung in meinem Kopf stattgefunden. Während mein Lieblingskleid auf schmerzliche Weise mit jener Nacht verlinkt war und ich jedes Mal, wenn ich den Namen Hans Bellmer las, unweigerlich an unsere erste Begegnung denken musste, hatte nun auch Cindy Sherman eine solche Verbindung zu Ian erhalten. Sobald ich den Katalog zur Hand nahm oder mich anderweitig mit Shermans Arbeit befasste, sprangen meine Gedanken zuerst zu ihm und dann spürte ich, dass es trotz aller Bemühungen noch immer wehtat.
    Konnte ein Mann, der die Ausstellung dieser begnadeten Künstlerin besuchte und mir diesen heiß ersehnten Katalog schickte, wirklich ein so schlechter Mensch sein? Natürlich konnte er. Aber das war eben nur die halbe Wahrheit. Unbestreitbar war er auch der eloquente, kunstsinnige Traummann, dessen Charme ich auf den ersten Blick erlegen war.
    Eine Woche später steckte eine in Italien abgestempelte Kunstpostkarte in meinem Briefkasten.

    Sah dieses Selbstportrait von Wanda Wulz und musste schon wieder an dich denken. Verzeih diese sentimentale Anwandlung,
    Ian

    Ich drehte die Karte um und betrachtete das schwarz-weiße Fotoportrait noch einmal eingehender. Es handelte sich um eine experimentelle Montage-Fotografie aus den 1930er Jahren, bei der das Gesicht der Künstlerin von dem Kopf einer Katze überlagert wurde und förmlich mit diesem verschmolz. Ich muss zugeben, dass mir diese vom Surrealismus geprägte Metamorphose zwischen Frau und Katze sehr imponierte. Wanda Wulz schaute mit dem divenhaften Selbstbewusstsein der Femme fatales ihrer Zeit geradewegs in die eigene Kamera, ein magisch-mythisches Mischwesen, das die intellektuelle Kultur der weiblichen Kunstschaffenden mit der sinnlich-gefährlichen Naturhaftigkeit der Katze zu verbinden wusste.
    So also sah mich Ian Reed. Das war in der Tat weit mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Schließlich hätte er mir auch eine Karte mit einer Fotografie von Helmut Newton oder Man Ray schicken können, in denen die Frauen zu Fetisch-Objekten männlicher Begierde degradiert wurden, um mir zu verdeutlichen, wo mein Platz in seiner Vorstellung war.

    Dann kam der Donnerstagabend, an dem ich im Rahmen einer interdisziplinären Vorlesungsreihe zur Genderforschung mit dem Leittitel Die Vielfalt der Begierden ausgerechnet einen Vortrag zum Thema Gefesselte Körper in der Kunst halten sollte.
    Aus meiner Erfahrung mit einer ähnlichen Vortragsreihe im vorangegangenen Semester und dem Wissen, dass es sich bei dem dafür reservierten Raum um keinen Hörsaal, sondern lediglich um einen größeren Seminarraum ganz in der Nähe des kunstgeschichtlichen Instituts handelte, hielt sich meine Nervosität bezüglich der Zuhörerschaft in Grenzen. Ich rechnete mit maximal einhundert Interessierten, darunter vor allem Teilnehmer des Studienprogramms Frauenstudien, Studierende und Mitarbeiter der Studiengänge Soziologie, Sozialwesen und Erziehungswissenschaften sowie
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