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In seinem Bann

In seinem Bann

Titel: In seinem Bann
Autoren: Anaïs Goutier
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zweigeschlechtlichen Zwitterwesen verschmolz. Außerdem referierte ich den berühmten Androgyn-Mythos aus Platons Gastmahl von den ursprünglich androgynen Kugelmenschen, die von den Göttern aus Furcht vor deren Stärke enzweigeteilt wurden und seither nach der Vereinigung mit ihrer verlorengegangenen Hälfte streben.
    Ich sprach kurz über die Aufwertung des Androgyn-Begriffs durch die Psychoanalyse der Jahrhundertwende mit C. G. Jungs Animus- und Anima-Theorem und zeigte entsprechende Bildbeispiele des Symbolismus mit Fernand Khnopffs femininen Jünglingen und amazonenhaft gerüsteten Mannweibern und Jean Delvilles Schule des Platon mit ihren äußerst androgynen, in pastellenen Gewändern gekleideten Schülern.
    Dann kam ich zur Faszination der Surrealisten für die Phänomene von Androgynie und Zweigeschlechtlichkeit. Auch sie beriefen sich auf die Psychoanalyse und propagierten das Androgyne als Ideal.
    Ich zeigte Portraits der surrealistischen Fotografin und Literatin Claude Cahun, die sich selbst als geschlechtsneutralen Dandy inszeniert hatte und Gemälde von Leonor Fini, die an der Stelle des kunstgeschichtlich tradierten weiblichen Aktes immer wieder androgyne, lasziv hingestreckte Jünglingsakte in freier Natur oder drapiert in sinnlichen Alkoven gemalt hatte. Entsprechend dieses Rollentauschs waren es weibliche Figuren, Hexen und schöne Sphinxen, die die wehrlosen Hermaphroditen beschützten oder, je nach Lesart, auch bedrohten. Hier war plötzlich nicht der weibliche sondern der männliche Körper Gegenstand der lustvollen Betrachtung, entblößt und zur Schau gestellt, teils lag der Freud’sche Kastrationsgedanke nahe.
    Mein Vortrag erhielt zustimmenden Applaus und eine kleine, angeregte Diskussion. Dann folgte das letzte Referat an diesem Abend über das Thema des Phallischen bei Salvador Dalí, André Masson und Louise Bourgeois.
    Andrea Thompson, die Administratorin der Tagung, hatte für den Abend einen Tisch in einem nahegelegenen italienischen Restaurant reserviert und da Leander und ich beide nicht übermäßig ortskundig waren, schlossen wir uns der Gruppe aus Referenten und Tagungsgästen an und die Entscheidung erwies sich als echter Glücksgriff.
    Die weniger unterhaltsamen Vertreter unserer Kunsthistoriker-Zunft hatten sich für den Rückzug in ihre Unterkünfte und ein zeitiges Zubettgehen entschieden und was übrig blieb, war ein bunter, gutgelaunter Haufen von Kunstwissenschaftlern aus halb Europa. Kurz, wir amüsierten uns prächtig und ich vergaß sogar für zwei oder drei Stunden, mir Sorgen um Ian zu machen.
    »Zwei Kunststudentinnen stehen bei einer Vernissage vor einem der Gemälde. Fragt die eine: »Was meinst du? Ist das ein Sonnenaufgang oder ein Sonnenuntergang?« Die andere: »Auf alle Fälle ein Sonnenuntergang. Ich kenne den Künstler, der steht nie so früh auf.«
    Offenbar hatte Leander wie so oft bei solchen Gelegenheiten wieder einmal etwas zu tief ins Glas geschaut und fing nun an, seine Künstlerwitze zum Besten zu geben.
    Es folgte eine Übersetzung ins Englische, unterbrochen von Leanders eigenem Prusten und gefolgt vom Gelächter seiner Zuhörer.
    »Ich hab noch einen. Passt auf: Einem niederländischen Barockmaler von Seestücken voll aufgepeitschter Wellen und tosender Gischt wird eine große Retrospektive gewidmet. Eine Besucherin zu ihrem Mann: »Es ist wirklich zu bedauernswert, dass der arme Kerl immer so ein Pech mit dem Wetter hatte!«
    Leander kringelte sich vor Lachen und orderte noch ein weiteres Glas Rotwein.
    Als wir uns schließlich verabschiedeten, war mein Kollege ziemlich angestochen, aber äußerst gut gelaunt.
    »Weißt du, dass du eine tolle Frau bist, Ann-Sophie?«
    »Danke für das Kompliment. Achtung, stolper nicht über den Bordstein.«
    »Ich meine das völlig ernst. Du bist eine tolle Frau.«
    »Das ist wirklich nett von dir. Gehen wir einen Schritt schneller, mir ist kalt.«
    Ich wand mich diskret aus seiner plötzlichen Umarmung. Das Gespräch und die Situation hatten mit einem Mal eine Wendung genommen, die ich in keiner Weise vorausgesehen hatte.
    »Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, wie schön ich dich finde, Ann-Sophie? Und wie anziehend?«
    »Nein, und ich finde das solltest du auch nicht. Du hast eine tolle Frau, Leander.«
    »Ja, Dorothee ist toll. Aber du bist eine Klasse für dich.«
    Leander kam mir schon wieder näher und die Situation begann mir allmählich unangenehm zu werden.
    »Leander, bitte. Du bist
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