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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Autoren: John Burnside
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Haus barg Erinnerungen an reale Vorkommnisse, an lang verstorbene Knechte und Schulmädchen, die vor fünfzig Jahren bei Tagesanbruch losgezogen und schwachsinnig heimgekehrt waren – schwachsinnig für den Rest ihres Lebens, von etwas Unbenennbarem gestreift, in den Köpfen ein Flügelschlag, eine Windbö dort, wo Gedanken hätten sein sollen. Kyrre glaubte an diese Dinge, doch hatten sie nichts mit Ungeheuern oder Feen gemein – und nun merke ich, dass ich auch daran glaube. Wenn ich aber in der Stadt nicht darüber reden will oder wenn ich mich zu Mutter an den Esstisch setze, sie mich anschaut und weiß, dass etwas anders ist – etwas, das sie, wie sie erstaunt bemerkt, nicht dingfest machen kann –, wenn ich niemals und niemandem Kyrres Geschichten erzählen will, dann nicht etwa, weil ich mich ihretwegen schäme. Nicht einmal, weil ich fürchte, die Stadtleute könnten behaupten, ich sei so verrückt wie jener alte Mann, der vor Jahren den Verstand verlor und verschwand. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass Stadtleute dumm sind – wenigstens sind sie nicht dümmer als andere Menschen. Ich weiß nur, sie gehören einer Welt an, die Geschichten aber einer anderen. Irgendwo dazwischen gingen fünf Seelen verloren, und die Huldra verschwand, wenn ich auch nicht mit Sicherheit behaupten kann, dass sie alle wirklich verschwunden sind, weshalb ich immer wieder dahin zurückkehre, wo ich sie zuletzt gesehen habe, um dort nach Spuren Ausschau zu halten, die es gegeben haben muss, irgendwann einmal, vor langer Zeit, Spuren, die längst verschwunden sind.

Dinge sehen

I n dem Moment, in dem ich aufwachte, wusste ich, dass irgendwas nicht stimmte. Ich hatte ein Gefühl, wie es einen manchmal beim Aufwachen überkommt, eine unbestimmte Furcht, die im Traum beginnt und sich dann, wenn die Nachtlogik schwindet, für kurze Zeit zu einem dunklen, lauernden Schatten verhärtet, ehe sie in nichts als Tageslicht und Märchenklischee zerfällt. Ein Phantomzustand, ein Fantasiegebilde, ein Kniff, mit dem der Verstand sich selbst täuscht, wenn man zu viele Geschichten gehört hat. Ein Anflug von Aberglauben, realer als alles andere, realer und überzeugender, bis man endgültig aufwacht und sein Gefühl absurd findet. Einen Moment lang meinte ich, mich zu fürchten, und ich wusste nicht genau, wo ich mich befand. Dann hörte ich unten Stimmen und begriff, es war Samstagmorgen in unserem grauen, sonnenbeschienenen Haus über den Wiesen, einem Haus, das im Laufe der Jahre zu einer Metapher geworden war – zu einer Metapher, vielleicht auch einem Talisman – für eine gewisse Lebensart, ein grau gestrichenes Holzhaus, das man weltweit an Galeriewänden in Oslo, London und New York, auf seltenen, sehr teuren Landschaftsbildern der für ihre Zurückgezogenheit berühmten Malerin Angelika Rossdal sehen kann – einer Frau, die mit ihr zwar keine Ähnlichkeit hat, aber dennoch meine Mutter ist.
    Weil Stimmen zu hören waren, Stimmen aus dem Esszimmer direkt unter meinem Bett, musste es irgendwann nach elf Uhr sein, da Mutters Freunde – Mutters Freier – um diese Zeit ins Haus kamen, so wie jede Woche, bei jedem Wetter, an schönen Tagen mit dem Wagen aus Mjelde oder Kvaløysletta, bei Schnee auf Skiern, stets pünktlich, stets mit Geschenken: Saatpäckchen oder junge Pflanzen von Harstad, dem weiter oben am Strand eine Gärtnerei für alpine Pflanzen gehörte, Bücher und Zeitungsausschnitte von Ryvold, unserem handzahmen Gelehrten, der wie Kyrre Opdahl seine Zeit mit dem Sammeln von Geschichten verbrachte – wenn auch, wie es damals schien, aus ganz anderen Gründen. Rott, in gewisser Hinsicht Mutters Liebling in dieser fröhlichen Schar abgewiesener Liebhaber, brachte Konfekt mit und Bonbons oder edle Teesorten aus seinem Laden in Tromsø. Sie alle kamen nie mit leeren Händen, und sie hatten auch immer eine Geschichte parat, ein bisschen Tratsch und Klatsch oder in der gerade vergangenen Woche gesammelte Neuigkeiten aus der Gegend, deren Einzelheiten sie sich sorgsam gemerkt hatten, damit sie bei Tee und Gebäck etwas zu erzählen wussten. Sie waren ausnahmslos gute Männer, und mir war keiner direkt zuwider, doch mied ich ihre Gesellschaft, wenn irgend möglich. Jeder für sich genommen war anständig, ja sogar bemerkenswert, zusammen aber stimmten sie mich traurig, nicht weil sie ein elenderes Leben als andere Menschen führten, sondern weil sie so verliebt in meine Mutter waren, jeder auf seine Weise, und weil so
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