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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht
Autoren: Nancy Kress
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Lanham,
nordöstlich der Stadt. Und dann hielt ich sie eine Minute lang
an mich gedrückt, bevor ich aufstand, mich anzog und einen Wagen
orderte, der mich von Bethesda zum Regierungsviertel bringen
sollte.
     
    Der Beirat für medizinische Krisen beim Kongreß war
eine Dauereinrichtung; diesmal tagte er in einem anonymen,
unprätentiösen Bürogebäude. Dafür gab es
gute Gründe. Zum einen gab es in diesen Tagen ständiger
Krisen so viele Beratende Komitees beim Kongreß, daß die
Regierungsgebäude immerzu randvoll waren mit nervös die
Köpfe zusammensteckenden Gesetzgebern, Wissenschaftlern,
Sprechern von Interessensgruppen, führenden Militärs,
Bürokraten, Toxikologen, Industriellen, Pädagogen,
Ärzten, Wirtschaftsfachleuten und Aktivisten. Außerdem war
bei einem anonymen Bürogebäude auch die Wahrscheinlichkeit
geringer, daß die Presse es unter Dauerbeobachtung hatte, und
die Einbeziehung der Presse würde zu diesem Zeitpunkt
verfrüht sein. Alle fanden das, außer mir. Ich fand, die
Einbeziehung der Presse war längst überfällig.
    Doch ich konnte auch den Standpunkt der anderen Mitglieder des
Beirates verstehen: Ein Großteil der Presse erging sich immer
noch in hysterischen Erregungen, besonders was die Nachwirkungen des
Kipp-Punktes betraf. Es gab eine Menge Dinge, für die sie
geradestehen mußten – und es wahrscheinlich nie tun
würden.
    Aber den Hauptgrund für das anonyme Bürogebäude
stellte das geheime Tunnelsystem zu der anonymen Parkgarage zwei
Häuserblocks weiter dar.
    Geheimhaltung war ein wesentlicher Aspekt der Bautätigkeit
vor einem Jahrzehnt, als man es sich noch leisten konnte,
überhaupt zu bauen. Und das war wohl auch notwendig. Es war
genau zur Zeit des Kipp-Punktes, als die drohende Finanzkrise der
US-Regierung nicht mehr nur drohte und die langsame weltweite Abnahme
befruchtungsfähiger menschlicher Spermien plötzlich nicht
mehr nur langsam vor sich ging; als die Vorbehalte gegen die
Gentechnik nicht mehr nur theoretische Gründe hatten und der
bevorstehende Zusammenbruch der Altersversorgung der Senioren, auf
die ein Rechtsanspruch bestand, plötzlich nicht mehr nur drohte:
das alles war mit einemmal da! Zusammen mit den Krawallen, den
Steuerrebellionen, den Gengesetzen und dem ganzen destruktiven Chaos
des Kipp-Punktes – jener beiden schmerzlichen Jahre, bevor der
Präsident mit Hilfe des Ausnahmezustandes die Ordnung
wiederherstellte. Viele ansonsten ziemlich redselige Menschen sagen
nicht, was sie in diesen beiden Jahren getan haben; in Washington
benutzten sie jedenfalls Geheimtunnels, um es zu tun.
    Ein paar Blocks vor der Parkgarage erblickte ich das Kind. Dies
war keine gute Gegend von Washington; der Stadt waren nur wenige gute
Gegenden geblieben. Der Wind blies Abfall zwischen den Häusern
hindurch, von denen etliche niedergebrannt und sehr viele mit
Brettern vernagelt waren. Die Mainacht war mild gewesen, und auf den
Gehsteigen, in den Einfahrten und unter den Feuerleitern schliefen
alte Leute, in Mäntel und Decken gewickelt. Washington war
schließlich eine Stadt der Alten – wie praktisch jede
andere Stadt auch.
    Jeder vierte Amerikaner war über siebzig. Auf 1,4 aktive
Steuerzahler kam ein >Pensionär<, den sie erhalten
mußten, wenn auch nur mit den armseligen, unter dem
Existenzminimum liegenden Unterstützungszahlungen, die die
meisten älteren Leute erhielten. Die Anzahl der >hochbetagten
Bürger< – der über Fünfundachtzigjährigen
– hatte sich in den letzten fünfzig Jahren vervierfacht.
Und die weltweite Geburtenrate betrug weniger als zwanzig Prozent von
jener vor hundert Jahren. In einigen Ländern nur noch fünf
Prozent. Und so war die Welt angesichts des relativen Fehlens von
Kindern alt geworden.
    Wir fuhren an den zusammengekauerten Gestalten vorbei. Und an den
Holos, dem sichtbarsten Teil des >Projekts Patriot<, hellen,
hüpfenden Feldern mit den Inschriften gemeinsame verantwortung!
und der gesellschaftsvertrag = deine garantie für eine gute
zukunft! Vorbei an den zerbrochenen Flaschen und dem Abfall der
Drogenkonsumenten und menschlichem Kot – dem üblichen eben.
Und natürlich an den Ratten, die jetzt unerschrockener und
aggressiver waren als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Ich
wußte den Grund dafür, aber der Beirat wollte ihn nicht
hören.
    Und mitten auf dieser frühmorgendlichen Straße ein
braunhäutiges kleines Kind mit riesigen dunklen Augen und langem
schwarzem Haar, das von einer rosa Masche gekrönt wurde.
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