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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht
Autoren: Nancy Kress
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Das
Mädchen hatte nichts als ein rosa Hemdchen an.
    »Halten Sie an!« rief ich dem Fahrer im selben Moment
zu, als der Wagen bereits mit quietschenden Bremsen stehenblieb, denn
der Fahrer war mindestens ebenso verblüfft wie ich. So etwas
passierte einfach nicht! Washington stand am unteren Ende der
regionalen amerikanischen Spermienliste – am unteren Ende
für Anzahl und Beweglichkeit und Normalität
– und dementsprechend auch für die Geburtenrate.
    Künstliche Befruchtung erwies sich in all ihren
unterschiedlichen Formen immer noch zu kostspielig für die
meisten Paare, besonders jetzt, da die ganze
Krankenversicherungsindustrie zusammengebrochen war. Und das Klonen,
in das die Welt einst ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte, war zu einem
bitteren Scherz geworden.
    Man konnte Würmer, Frösche, Schafe und Elefanten klonen.
Aber nicht Menschen. Eine geklonte unbefruchtete menschliche Eizelle
teilte sich folgsam fünfmal zu zweiunddreißig Zellen. Und
dann teilte sie sich weiter, statt zuerst in die ersten der
zahlreichen Faltungen zu gastrulieren, die zur Zelldifferenzierung
führen. In diesen geklonten Zellen findet keine
Zelldifferenzierung statt. Absolut keine. Man erhält nicht
Knochenzellen, Hautzellen und Muskelzellen, sondern einen
monströsen Knäuel gleichartiger Zellen, dessen homogene
Masse immer weiterwächst, bis jemand ihn zerstört. Die
Forscher schrieben das einer schleichenden Störung der
Polaritätsgradienten der Körperchemie des Embryos zu, doch
war es noch niemandem gelungen, den genauen Mechanismus zu
durchschauen. Man kannte nur das Ergebnis. Das Klonen jedenfalls
konnte nicht die Babies liefern, die die Welt so dringend
benötigte.
    Und so waren Kinder etwas Seltenes und Kostbares; man ließ
nicht zu, daß sie halbnackt und allein mitten auf schmutzigen
Straßen herumirrten. Ganz besonders nicht Kinder ohne
sichtbaren Geburtsfehler. Es gab zahllose unfruchtbare Ehepaare, die
für dieses kleine Mädchen ohne zögern einen Mord
begangen hätten.
    Sie sah furchtlos hoch zu mir und steckte zwei Finger in den
Mund.
    »Hallo!« Ich lächelte durch das herabgelassene
Wagenfenster.
    Neben mir zog der Fahrer seine Waffe; das Einsetzen von Kindern
als Köder war den wirklich Verzweifelten nicht fremd. »Wie
heißt du denn?«
    »Rosaria«, sagte sie an den beiden Fingern vorbei und
setzte zum Weinen an. Ich stieg aus dem Wagen.
    »Warum weinst du denn, Rosaria?«
    »Abuela hat mich nicht angezogen.« Sie hob den Saum
ihres Hemdchens, um mir ihre nackten Beine und Genitalien zu zeigen.
Hastig schob ich den Saum wieder nach unten. Wenn irgendeine
Robokamera das aufnahm…
     
    kleinkind durch regierungsbeauftragten
wissenschaftler sexuell belästigt!
     
    »Und wo ist deine Abuela jetzt, Rosaria?«
    Sie zeigte die Straße hinab. Der Fahrer sagte:
»Sir… ich kann die Kinderfürsorge
anrufen…«
    »Tun Sie das. Und die Polizei auch.« Aber Rosaria zog
mich an der Hand und weinte. »Rosaria, wir müssen auf
jemanden warten, bevor wir Abuela suchen.«
    »Abuela auf den Boden gefallen.«
    Ich war Arzt. Ich ging mit ihr.
    Sie führte mich ein kurzes Stück die nächste
Querstraße entlang. gemeinsame verantwortung! ermunterte mich
das Graffiti auf einem Haus, zusammen mit scheiss auf verantwortung!
Der Fahrer blieb am Wagen zurück und sprach zu seinem
Armband.
    Ich hielt das kleine Händchen des Kindes fest, als wir die
schmutzigen, abbröckelnden Stufen hochstiegen, die zum Eingang
des Wohnhauses führten. Das Tor hing halb aus den Angeln, und im
Innern stank es nach Knoblauch und Hoffnungslosigkeit. Die Treppe war
nicht einmal mit einem gewöhnlichen verstärkten
Geländer und den üblichen rutschsicheren Belägen
versehen, geschweige denn mit den Sensoren, die bei Bedarf Hilfe
herbeiholten und bei den Wohlhabenden unter den Alten eine Art
Schutzengelfunktion wahrnahmen. Am Ende der Treppe gab es drei
Wohnungstüren, und eine davon stand weit offen.
    Im Innern der Wohnung lag eine alte Frau, erkennbar
südamerikanischer Herkunft zwischen zwei sorgfältig
geflickten Sesseln, die irgendwann einmal hellrot gewesen waren, auf
dem sauberen Boden. Ein Blick auf sie, und ich wußte, es war zu
spät. Myokardinfarkt oder ein geplatztes Aneurysma oder
irgendeine andere eines Dutzends Ursachen für den Tod der sehr
Alten. In der Hand hielt sie Rosarias rosa Strumpfhose.
    Ich hockte mich vor das Kind hin. »Rosaria… deine Abuela
ist tot. Sie ist nicht mehr da drin in diesem Körper. Verstehst
du mich?«
    Sie
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