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In Gedanken bei dir (German Edition)

In Gedanken bei dir (German Edition)

Titel: In Gedanken bei dir (German Edition)
Autoren: Barbara Goldstein , Lara Myles
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1
     
     
    Werden diese kleinen Füße jemals Spuren in
einem Leben hinterlassen?
    Die
Traurigkeit überkam Cassie wie eine Woge, die alle anderen Gefühle mit sich
reißt, und sie fühlte sich, als versuchte sie, unter Wasser zu atmen. Ihr Herz
klopfte und ihre Knie zitterten, als sie sich auf das Krankenbett ihrer kleinen
Tochter setzte und Jolies Blue-Dolphin-Slippers aufhob. Die niedlichen Delfine
aus meerblauem Plüsch hatten ein verschmitztes Grinsen in den Gesichtern und ein
kesses Funkeln in den glänzenden, schwarzen Knopfaugen. Nick hatte Jolie die
Hausschuhe für die Klinik geschenkt, als die Kleine vor einigen Monaten beim
World Wildlife Fund die Patenschaft für einen Delfin übernommen hatte.
    Cassie
stellte die süßen Schühchen auf ihre Knie und strich mit den Fingerspitzen über
die flauschigen Flossen.
    Wie
zum Trost wiegte Cassie sich langsam vor und zurück. Die panische Angst, dass
sie Jolie verlieren könnte, bevor ihr funny little girl diesen kleinen
Blue-Dolphin-Slippers entwachsen war, bevor sie ihren adoptierten Delfin auf
Hawaii besuchen konnte, bevor sie überhaupt gelebt hatte, schnürte
Cassie die Kehle zu. Jolie war fast sechs, sie war Cassies ältestes Kind, aber
nicht das erste, das starb.
    Cassies
Augen brannten, und wie so oft in den letzten Wochen kämpfte sie gegen die
heißen Tränen an. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, und sie versuchte,
jeden Augenblick mit Jolie zu bewahren, als wäre er der letzte.
    In
der kurzen Zeit, die Jolie bei uns ist, hat sie uns so viel Glück und
Lebensfreude geschenkt!, dachte Cassie.
    In
den letzten Monaten, seit sie krank war, hatte die Kleine Nick und sie gelehrt,
wie tapfer ein kleiner Mensch sein konnte, wie stark seine Seele war, und was
es bedeutete, eine Familie zu sein.
    Der
Tod des eigenen Kindes war ... nein, dieses Gefühl, dieser Schmerz ließ sich
nicht in Worte fassen. Mit dem Sterben konnte ihre kleine Tochter besser
umgehen als sie. Jolie konnte sich dem stellen.
    Ein
ungelebtes Leben verwirklichen – wie das geht?
    Ihre
zerbrochenen Hoffnungen und unerfüllten Träume hatte Jolie in die rote
Lackschachtel gesteckt, die auf dem Tisch dort drüben stand. Eine Schachtel
voller Herzenswünsche, die alle wie Seifenblasen zerplatzen würden. Wie gern
würde Cassie ihrer Süßen ihre sehnlichsten Wünsche erfüllen! Doch es waren
Lebenswünsche, die nur sie selbst verwirklichen konnte.
    Ihr
größter Wunsch? Sechs Jahre alt zu werden.
    Sechs.
    Nicht
sechzig, siebzig, achtzig. Nicht ein langes und erfülltes Leben zu genießen,
ein Leben, das ihrem Tod ein gewisses Maß an Sinn verleihen würde.
    Gab
es etwas Unangemesseneres als den Tod eines kleinen Kindes, das fast die Hälfte
seines Lebens in einer Klinik verbracht hatte? Das nie wirklich Kind war? Das
in seinem kurzen Leben eigentlich nie mit aller Kraft gelebt hatte? Das mit
vier gelernt hatte, wie schmerzhaft eine Lumbalpunktion an der Wirbelsäule war,
und wie elend man sich nach einer Chemotherapie fühlte? Das die Bedeutung von
APL kannte, eine seltene und schwer zu behandelnde Form von a kuter
myeloischer Leukämie, ein
Wort, das Cassie nicht aussprechen konnte, ohne dabei zu würgen?
    Wenn
Jolie und sie gemeinsam in der roten Lackschachtel stöberten, wenn die Kleine
sich in ihre Arme schmiegte und sie mit den Lippen über die zarte Haut ihres
kahlen Kopfes strich, war Cassie traurig, ja, aber das, was Jolie in die
Schachtel gepackt hatte, schenkte ihr auch immer sehr viel Kraft und weckte in
ihr den Wunsch, genau so stark zu sein wie ihre Kleine. Die Schachtel steckte
voller Gefühle, und Jolie und sie lachten und weinten oft gemeinsam. Jolie
strich dann über Cassies kurzes Haar und sah sie mit großen wimpernlosen
Kinderaugen an.
    Als
Jolie während der letzten Chemo wieder die Haare ausgefallen waren, hatte
Cassie ihr den Kopf rasiert. Jolies feines blondes Haar war auf den Boden
gerieselt, und sie hatte wieder geweint, wie beim letzten Mal. Aber Cassie
hatte sie nicht in den Arm genommen und getröstet. Sie hatte ihr den Rasierer
in die Hand gedrückt: »So, und jetzt ich.«
    Am
Ende hatten sie ihren Spaß, und Cassie hatte Jolie auf Facebook das Bild der
kahlen Barbie gezeigt, die Mattel für krebskranke Kinder herstellen wollte, die
während der Chemo ihre Haare verloren.
    Meine
wachsen jetzt nach, dachte Cassie, Jolies nicht. Nie mehr? Wie viele Nie mehrs stehen Nick und mir noch bevor?
    Nie
mehr würde sie die Finger durch Jolies weiches Haar gleiten
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