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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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jedoch näher kennengelernt, und er war mir ans Herz gewachsen. Ich schoß kurz vier Fotos von Boukreev und Harris, die sich in Gipfelposen warfen, wandte mich ab und machte mich auf den Weg nach unten. Meine Uhr zeigte 13 Uhr 17 an. Alles in allem hatte ich weniger als fünf Minuten auf dem Dach der Welt verbracht.
    Einen Moment später hielt ich kurz, um ein weiteres Foto zu schießen, diesmal mit Blick hinab auf den Südgrat, auf jene Route, die wir für den Anstieg genommen hatten. Ich stellte mein Objektiv auf ein paar Bergsteiger scharf, die sich dem Gipfel näherten. Da bemerkte ich etwas, das zuvor meiner Aufmerksamkeit entgangen war. Nach Süden hin, wo der Himmel noch vor einer Stunde strahlend blau gewesen war, waren der Pumori, der Ama Dablam und andere, niedrigere Gipfel rund um den Everest von einer Wolkendecke überzogen.
    Später – nachdem sechs Leichen gefunden worden waren, nachdem die Suche nach zwei weiteren erfolglos abgebrochen werden mußte, nachdem die von einer Gangrän befallene rechte Hand meines Teamgefährten Beck Weathers amputiert worden war – fragte sich jeder: Warum, obwohl absehbar war, daß das Wetter sich zunehmend verschlechterte, schlugen Bergsteiger im Gipfelbereich die Warnzeichen in den Wind? Warum setzten erfahrene Himalaja-Führer den Aufstieg fort und führten einen Trupp relativ unerfahrener Amateure – von denen jeder satte 65 ooo Dollar hingeblättert hatte, um sicher auf den Everest geleitet zu werden – in eine offensichtliche Todesfalle?
    Niemand kann für die Bergführer der beiden beteiligten Gruppen sprechen, denn beide Männer sind tot. Ich kann nur bezeugen, daß ich an jenem frühen Nachmittag des 10. Mai nichts bemerkt habe, das auf das Heraufziehen eines mörderischen Unwetters hingewiesen hätte. Für mein sauerstoffentleertes Hirn wirkten die Wolken, die über dem sogenannten Western Cwm 2 , einem riesigen Eistal, aufzogen, harmlos, dünn und kaum der Beachtung wert. Wie sie so in der strahlenden Mittagssonne schimmerten, schienen sie sich von den paar Kondensationswirbeln, die fast jeden Nachmittag aus dem Tal aufstiegen, kaum zu unterscheiden.
    Ich war ziemlich beunruhigt, als ich mit dem Abstieg begann, aber meine Sorge galt nicht etwa dem Wetter: Ein Blick auf meine Sauerstofflasche zeigte, daß sie beinahe leer war. Ich mußte runter, und zwar schnell.
    Das oberste Ende des Südostgrats ist ein schmaler Wächtengrat und darüber eine von Winden blankpolierte Schneeschicht: Etwa einen halben Kilometer lang schlängelt er sich zwischen der Bergspitze und einem niedrigeren Vorgipfel hindurch, dem sogenannten Südgipfel. Der gezackte Grat stellt an sich kein großes technisches Hindernis dar. Das Problem liegt vielmehr darin, daß diese Route vollkommen frei liegt und dem Bergsteiger nicht den geringsten Schutz bietet. Nachdem ich den Gipfel verlassen hatte, erreichte ich nach fünfzehnminütiger, vorsichtiger Kletterarbeit an einem zweitausend Meter tiefen Abgrund entlang die berüchtigte Hillary-Stufe, einen markanten Felsvorsprung im Gipfelgrat, der ein gewisses Maß an technischer Feinarbeit verlangt. Als ich mich in ein Fixseil einhakte, um mich über den Rand abzuseilen, bot sich mir ein alarmierender Anblick.
    Zehn Meter unter mir, am Fuße der Felsstufe, hatte sich eine Schlange von mehr als einem Dutzend Bergsteiger gebildet. Drei waren bereits dabei, sich an dem Seil hinaufzuziehen, an dem ich mich gerade hinunterlassen wollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich aus dem gemeinschaftlichen Sicherheitsseil wieder auszuhaken und beiseite zu treten.
    Der Stau setzte sich aus Bergsteigern aus drei verschiedenen Expeditionen zusammen: dem Team, dem ich angehörte, bestehend aus einer Gruppe zahlender Klientel unter der Leitung des berühmten neuseeländischen Bergführers Rob Hall; einem weiteren, von dem Amerikaner Scott Fischer geleiteten Team; und ferner einem nicht-kommerziellen taiwanesischen Team. Im Schneckentempo arbeitete sich der Pulk die Hillary-Stufe hoch, was aber in Höhen über 8 ooo Metern die Norm ist. Während ich nervös ausharrte.
    Harris, der den Gipfel kurz nach mir verlassen hatte, schloß bald auf. Um das bißchen mir noch verbliebenen Sauerstoff zu sparen, bat ich ihn, in meinen Rucksack zu langen und den Regler meines Ventils abzudrehen. In den nächsten zehn Minuten fühlte ich mich erstaunlich gut. Mein Kopf war wieder klar. Ich fühlte mich sogar weniger müde als mit aufgedrehtem Sauerstoff. Dann, ganz
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