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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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ersten Mal erobert wurde.
    Unter Bergsteigern und Kennern geologischer Formationen gilt der Everest nicht gerade als ein besonders anmutiger Berg. Zu klotzig, zu breit und ausladend, zu grob gemeißelt. Aber was dem Everest an Anmut fehlt, macht er mit schierer, überwältigender Masse wett.
    Auf der Grenzlinie zwischen Nepal und Tibet gelegen, überragt der Berg als eine Pyramide aus schimmerndem Firneis und dunklem, geriefeltem Stein die umliegenden Täler um mehr als 4000 Meter. Die ersten acht Expeditionen auf den Everest waren allesamt britisch, und alle versuchten den Berg von der nördlichen, tibetanischen Seite aus anzugehen – weniger deshalb, weil sie in dem mächtigen Bollwerk des Berges die offensichtlichste Schwachstelle bildete, sondern vielmehr weil die tibetanische Regierung 1921 ihre lange geschlossenen Grenzen öffnete, der Zutritt zu Nepal jedoch strikt verboten blieb.
    Die ersten Everest-Besteiger mußten 400 mühsame Meilen von Darjeeling aus über das tibetanische Plateau trekken, um überhaupt an den Fuß des Berges zu gelangen. Damals war das Wissen um die lebensbedrohlichen Auswirkungen extremer Höhenlagen auf den Organismus gering, und die Ausrüstung war gemessen am heutigen Standard geradezu lächerlich unzulänglich. Und dennoch drang im Jahr 1924 ein Mitglied der dritten britischen Expedition, Edward Felix Norton, bis zu einer Höhe von 8 573 Metern vor – nur knapp 300 Meter unter dem Gipfel –, bevor er von Entkräftung und Schneeblindheit besiegt wurde. Es war eine erstaunliche Leistung, die wahrscheinlich 29 Jahre lang nicht übertroffen wurde.
    Ich sage »wahrscheinlich« wegen eines Gerüchts, das vier Tage nach Nortons Gipfelangriff durchsickerte. Beim ersten Morgenlicht des 8. Juni zogen zwei weitere Mitglieder des britischen Teams von 1924, George Leigh Mallory und Andrew Irvine, vom höchsten Lager in Richtung Gipfel aus.
    Mallory, dessen Name untrennbar mit dem Everest verbunden ist, war die treibende Kraft hinter den ersten drei Gipfelexpeditionen. Er war es auch, dem während einer Dia-Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten die ebenso berüchtigte wie geistreiche Bemerkung entfuhr: »Weil es ihn gibt«, als ein lästiger Zeitungsmann wissen wollte, warum er den Everest besteigen wollte. 1924 war Mallory achtunddreißig Jahre alt, ein verheirateter Schuldirektor mit drei kleinen Kindern. Als typisches Produkt der englischen Oberschicht war er ein Ästhet und Idealist mit entschieden romantischen Empfindungen. Seine athletische Anmut, sein Charme und sein gutes Aussehen hatten ihn zu einem Liebling von Lytton Strachey und dem Bloomsbury-Kreis gemacht. Während sie hoch oben auf dem Everest im Zelt kampierten, lasen Mallory und seine Kameraden einander laut aus
Hamlet
und
King Lear
vor.
    Als Mallory und Irvine sich am 8. Juni auf den Gipfel des Everest zukämpften, war die pyramidenförmige Bergspitze von Nebelbänken umwogt. Den Gefährten weiter unten auf dem Berg war es dadurch unmöglich, zu verfolgen, wie die beiden Bergsteiger weiter vorrückten. Um 12 Uhr 50 teilte sich die Wolkendecke einen Moment lang, und Kamerad Noel Odell konnte einen kurzen, aber klaren Blick auf die beiden hoch oben am Gipfelgrat werfen. Sie hinkten zwar dem Zeitplan um ungefähr fünf Stunden hinterher, bewegten sich aber »kontrolliert und schnell« auf den Gipfel zu.
    Die beiden Bergsteiger kehrten in jener Nacht jedoch nicht in ihr Zelt zurück. Weder Mallory noch Irvine sollten jemals wieder gesehen werden. Ob einer oder gar beide den Gipfel erreichten, bevor der Berg sie verschluckte und sie ins Reich der Legende eingingen, ist seither Gegenstand heftiger Diskussionen.
    Nach reichlichem Abwägen gelangte man zu der Auffassung, daß dies wohl eher nicht der Fall war. Wie dem auch sei, ohne handfeste Beweise wurde ihnen die Erstbesteigung nicht zuerkannt.
    Im Jahre 1949, nachdem es jahrhundertelang nicht betreten werden konnte, öffnete Nepal seine Grenzen, während ein Jahr darauf das neue kommunistische Regime in China Tibet für Ausländer abriegelte. Jene, die den Everest besteigen wollten, wandten ihre Aufmerksamkeit nun also der Südseite des Berges zu. Im Frühjahr 1953 versuchte es ein umfangreiches britisches Team, das mit dem großen Eifer und dem überwältigenden finanziellen und technischen Aufwand eines militärischen Feldzugs zu Werke ging. Es war die dritte Expedition, die den Everest von Nepal aus in Angriff nahm. Am 28. Mai, nach zweieinhalb Monaten ungeheurer
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