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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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die gezackten Gipfel sich weiß gegen einen grotesk geschwärzten, von Kratzern durchzogenen Himmel hoben. Der Everest selbst, der sich hinter den vorderen Gipfeln verbarg, schien nicht einmal der höchste zu sein, aber das war einerlei. Er war es. So ging die Sage. Der Schlüssel zu dem Bild waren Träume, die es einem Jungen erlaubten, anzutreten, auf dem Scheitel eines windgepeitschten Kamms zu stehen, den Gipfel zu erklimmen, der nun nicht mehr weit war...
    Dies war einer jener grenzenlosen Träume, die entstehen, wenn man heranwächst. Ich war mir sicher, daß ich nicht der einzige war, der vom Everest träumte. Der höchste Punkt der Erde, unerreichbar, jenseits jeder menschlicher Erfahrung, war für viele Jungen und erwachsene Männer da, um zu ihm aufzustreben.
    THOMAS F. HORNBEIN
    Everest: The West Ridge
     
    Die genauen Details des Ereignisses liegen im dunkeln, von Mythen umrankt. Aber es war im Jahre 1852, und stattgefunden hat es in den Büros der Great Trigonometrical Survey of India, dem britischen Landesvermessungsamt, im indischen Dehra Dun, einem im nördlichen Bergland gelegenen Erholungsort für Europäer. Nach der glaubwürdigsten Version der Ereignisse stürmte ein Schreiber in die Räume von Sir Andrew Waugh, Indiens oberstem Landesvermesser, und rief aus, daß ein bengalischer Kalkulator namens Radhanath Sikhdar, der der Außenstelle des Amtes in Kalkutta angehörte, den »höchsten Berg der Erde entdeckt« hatte. (Zu Waughs Zeiten war ein Kalkulator eine Berufsbezeichnung und keine elektronische Rechenmaschine.)
    Der betreffende Berg – von Landesvermessern, die vor drei Jahren seinen Vertikalwinkel mit einem fünfzig Zentimeter großen Theodolit, einem Winkelmeßgerät, vermessen hatten, als Gipfel XV bezeichnet – ragte im verbotenen Königreich von Nepal aus dem Gebirgsgrat des Himalaja heraus.
    Bis zu dem Zeitpunkt, als Sikhdar die Vermessungsdaten zusammengetragen und seine mathematischen Kalkulationen vorgenommen hatte, wäre niemand auf die Idee gekommen, daß an Gipfel XV irgendwas Bemerkenswertes dran sei. Die sechs Vermessungspunkte, von denen aus der Gipfel trigonometrisch erfaßt wurde, lagen in Nordindien, mehr als hundert Meilen von dem Berg entfernt. Für die Vermesser war von Gipfel XV nur das Hörn zu sehen. Der Berg selbst war von verschieden hohen Steilhängen im Vordergrund verdeckt, von denen einige viel größer und mächtiger zu sein schienen. Aber nach Sikhdars penibel durchgeführten trigonometrischen Schätzungen (welche Faktoren wie die Krümmung der Erdoberfläche, atmosphärische Refraktionskräfte und Richtscheitabweichungen mit einbezog) erhob sich Gipfel XV 8.840 Meter 3 über dem Meeresspiegel und war damit der höchste Punkt des Planeten Erde.
    1865, neun Jahre nachdem Sikhdars Berechnungen bestätigt worden waren, verlieh Waugh Gipfel XV den Namen Mount Everest, zu Ehren von Sir George Everest, seinem Vorgänger im Amt des obersten Landesvermessers. Nun hatten aber die Tibeter, die im Norden des großen Berges lebten, bereits einen viel klangvolleren Namen für ihn – Jomolungma, was soviel heißt wie »Göttin, Mutter der Erde« –, während die Nepalesen, die im Süden angesiedelt waren, den Berg Sagarmatha nannten, »Göttin des Himmels«. Aber Waugh beschloß, diese Namen der Eingeborenen beflissentlich zu ignorieren (wie auch die offizielle politische Linie, nach der örtliche oder angestammte Bezeichnungen bewahrt werden sollten), und Everest war schließlich der Name, der blieb.
    Nachdem der Everest nun zum höchsten Berg auf Erden erklärt worden war, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen beschlossen, daß er auch bestiegen werden mußte. Nachdem im Jahre 1909 der amerikanische Forschungsreisende Robert Peary verkündete, er habe den Nordpol erreicht, und Roald Amundsen 1911 einen norwegischen Troß zum Südpol führte, wurde der Everest – der sogenannte dritte Pol – das begehrteste Objekt im Reich irdischer Erforschung. Auf dem Gipfel zu stehen, wie Günther O. Dyrenfurth, ein einflußreicher Alpinist und Chronist des frühen himalajischen Bergsteigers, war »eine Sache universalen menschlichen Strebens, ein Selbstzweck, bei dem es kein Zurück gibt, wie hoch die Verluste auch sein mögen«.
    Jene Verluste waren, wie sich herausstellte, alles andere als unbedeutend.
    Im Anschluß an Sikhdars Entdeckung von 1852 mußten 21 Menschen ihr Leben lassen, 15 Expeditionen aufbrechen und 101 Jahre vergehen, bis der Everest schließlich zum
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