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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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wieder ihrer Freundin zu. Die beiden unterhielten sich gerade darüber, wie man Kinder, die immer nur dasselbe essen wollten, dazu brachte, endlich mal etwas Neues zu probieren.
    «Ich sage ihr jedes Mal, dass es super schmeckt», sagte Grace. «Aber sie will nicht mal kosten.»
    Die junge Frau ging weiter, warf noch einen Blick über die Schulter, doch dann überquerte sie die Straße, und kurz darauf war sie verschwunden.

    Schließlich gingen sie nach Hause zurück.
    «Es tut so gut, endlich wieder richtig laufen zu können», sagte Grace lächelnd und breitete begeistert die Arme aus. Sie ging nicht mehr gebückt, sondern hielt die Schultern wieder gerade, und der Wind hatte ihre Wangen gerötet. Trotzdem konnte Mitch die Nachwehen der erlittenen Schmerzen immer noch in den Schatten unter ihren Augen erkennen; daran, wie vorsichtig sie vom Bürgersteig auf die Straße trat; sie färbten ihr neu gewonnenes Glück, verliehen ihm Form und Gewicht. Sie und Sarah hielten sich an den Händen.
    Seine Gedanken schweiften zu Martine und Mathieu und schließlich widerstrebend auch zu Thomasie. Er hatte sich nach Kräften bemüht, die Erinnerung an sie zu verdrängen, und auch Grace und Sarah hatten ihm geholfen, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, aber natürlich waren sie immer da, Soldaten in Habachtstellung, die sich nicht aus seinem Hinterkopf vertreiben ließen. Er sah Sarah an und dachte, dass sie trotz aller Schwierigkeiten, trotz des fehlenden Vaters ein schönes, behütetes Dasein führte; er sah sich außerstande, es nicht mit den leeren, problembehafteten Leben jener Menschen zu vergleichen, die er einst gekannt und im Stich gelassen hatte oder von denen er im Stich gelassen worden war.
    Die einen waren da, die anderen fort. Ein Kind wird in die Welt gesetzt, ein anderes muss sie wieder verlassen. Schuldgefühl und Reue lasteten tonnenschwer auf seinen Schultern.
    Zuweilen hasste er sich selbst – einfach, weil er im Gegensatz zu anderen noch am Leben war. Am liebsten hätte er die Erinnerung an jeden einzelnen Patienten, den er je gehabt hatte, unwiederbringlich aus seinem Gedächtnis gelöscht, ebenso wie jedes Problem, das er verursacht oder nicht gelöst hatte. Dann wiederum gab es Momente, in denen er glaubte, dass er all diese Dinge niemals vergessen würde, dass es wichtig sei, sie nicht zu verdrängen, dass darin vielleicht sogar die wichtigste Aufgabe seines Lebens bestand. Sich dem Schmerz anderer nicht zu verschließen, war dasMindeste, was man tun konnte. Nur so konnte man sicher sein, dass einem auch andere zur Seite standen, wenn man selbst in einer Krise steckte.
    Sarah erzählte ihrer Mutter eine Geschichte von einem Zauberer, der um die ganze Welt flog, Wasserfälle anhalten und Bäume aus dem Boden schießen lassen konnte. Er war nicht sicher, ob sie die Geschichte selbst erfunden hatte oder aus einem Buch oder Film kannte. Sie war ein fantasievolles Mädchen, das manchmal nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden konnte; vielleicht, weil Grace sie zu sehr darin bestärkte.
    Als sie wieder zu Hause waren, bestellte Grace Pizza und fragte Mitch, ob er noch bleiben wolle. Er schüttelte den Kopf. Sarah war in ihrem Zimmer verschwunden.
    Nun waren sie also allein. Obwohl sie während der vergangenen Monate so manche Stunde miteinander verbracht hatten, war heute alles irgendwie anders. Es herrschte eine seltsam verlegene Stimmung, wahrscheinlich, weil er diesmal nicht vorbeigekommen war, um ihr unter die Arme zu greifen, sondern
einfach so
. Die ganze Zeit über hatte er eine gewisse Distanz zwischen ihnen gespürt, sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Er vermutete, dass sich ihre gemeinsame Zeit dem logischen Ende zuneigte; jeder von ihnen würde sein Leben für sich weiterleben, so wie sie es schon all die Jahre zuvor getan hatten.
    Grace werkelte in der Küche herum, räumte Geschirr weg, wischte die Arbeitsflächen sauber. Erst hatte sie seine Hilfe stillschweigend und bereitwillig angenommen, sie dann aber vor Azra verheimlicht. Sie hatte sich herausgepickt, was nützlich für sie gewesen war, und sich um den Rest gedrückt. Er hatte die ganze Zeit nur einen Wunsch gehabt: sich nicht dafür zu schämen, was er tat, doch genau das Gegenteil war eingetreten. Und das war Grace’ Schuld. Er schäumte innerlich vor Wut.
    Grace, die seinen Unmut zu spüren schien, wandte sich um und lehnte sich an die Arbeitsplatte. «Azra hat mir erzählt, dass sie dirgestern über den Weg
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