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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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schmerzhaft das Gesicht verzog und ihre Bewegungen immer noch ein wenig steif waren, was sie älter wirken ließ, als sie eigentlich war. Viermal die Woche ging sie zur Reha und kam anschließend völlig erschöpft nach Hause, manchmal den Tränen nahe, auch wenn sie, wie sie Mitch erzählte, die meiste Zeit nur auf der Liege verbrachte, während die Physiotherapeutin ihre Beine mal in diese, mal in jene Richtung drehte, um ihren Bewegungsapparat wieder auf Vordermann zu bringen. «Man kann sich nicht vorstellen, dass etwas so wehtun kann», sagte sie. «In manchen Momenten würde ich die arme Frau am liebsten umbringen, obwohl sie mir ja bloß helfen will. Es ist fast genauso wie damals, als Sarah geboren wurde und ich die Ärzte angeschrien habe, wie sehr ich sie hasse.»
    «Du hast die Ärzte gehasst?», rief Sarah von nebenan. «Warum?» Wie alle Kinder lauschte sie gern, wenn es den Erwachsenen ungelegen kam.
    Grace zog eine Grimasse. «Ich habe sie ja gar nicht wirklich gehasst», rief sie zurück. «Ich habe es in dem Moment bloß gedacht.»
    Sarah kam in die Küche, ein Bild in der Hand, an dem sie gerade gemalt hatte. Besorgt zog sie die Stirn in Falten. «Weil es so wehgetan hat, als ich geboren wurde?»
    «Am Anfang, aber nur ein bisschen», erwiderte Grace vorsichtig. «Aber dann habe ich gar nichts mehr gespürt, und als du schließlich da warst, konnte ich mein Glück nicht fassen.» Sie zog sie eng an sich und verzog schmerzhaft das Gesicht, als Sarah ihrerseits die Arme um ihre Taille schlang. Grace gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: «Mal noch ein bisschen. Hast du heute keine Hausaufgaben auf?»
    «Schon gemacht», sagte Sarah und verließ die Küche wieder. Was sie eben noch beschäftigt hatte, schien sie bereits wieder vergessen zu haben.
    Mitch brachte Grace ein Glas Wasser und zwei Tabletten, da er inzwischen genau wusste, wann sie etwas gegen ihre Schmerzen brauchte. Sie wirkte so abgespannt, als sei ihr Kopf zu schwer für ihre Schultern, und ihr Blick war verschwommen und matt.
    «Danke», sagte sie.
    Nachdem sie fast alles wieder allein erledigen konnte, kam Mitch nicht mehr ganz so häufig vorbei. Dennoch kümmerte er sich gelegentlich um den Einkauf, sah herein, um Glühbirnen auszuwechseln, den Müll hinauszubringen, die Duschstange wieder festzuschrauben, erledigte all die Dinge, die sie noch nicht selbst übernehmen konnte. Es waren Tätigkeiten, die seinem Alltag Form und Struktur verliehen, und er freute sich jedes Mal auf Sarahs fröhliches Hallo und die Plaudereien mit Grace. Mittlerweile wusste er nicht mehr, ob er half oder ihm geholfen wurde und ob das überhaupt eine Rolle spielte. Zwischen ihm und Grace hatte sich eine pragmatische, ungezwungene Freundschaft entwickelt. Früher oder später würde sie seine Unterstützung nicht mehr benötigen, und er hatte keine Ahnung, ob sie dann weiterhin am Leben des anderen teilnehmen würden.
    Eines Tages kam ihm Azra auf der Treppe entgegen, als er gerade die Wohnung verließ. Zuletzt hatte er sie Mitte September gesehen, als Grace noch nicht wiederhergestellt gewesen war.
    «Hey!», sagte er und umarmte sie kurz. Erst als er sich von ihr löste, fiel ihm ihr fragender Blick auf.
    «Hi», sagte sie. «Was machst du denn hier?»
    «Was meinst du?»
    Sie sah ihn verlegen an. «Nichts Besonderes. Greifst du Grace immer noch unter die Arme? Das ist aber nett von dir.» Es war kein besonders geschicktes Ausweichmanöver; ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, dass seine Anwesenheit sie gehörig irritierte.
    «Na ja, bloß ab und zu», erwiderte er lahm, während er sichfragte, warum er sich verhielt, als ginge es um etwas, wofür er sich schämen musste. «Hat Grace nichts davon erzählt?»
    «Nein», antwortete Azra. «Hat sie nicht.»
    Einen Moment lang fragte er sich, was das zu bedeuten hatte. Das Schweigen zwischen ihnen war ihm so peinlich, dass ihm nichts anderes einfiel, als sich kurzerhand zu verabschieden.
    Zurück in seinem Apartment, beschloss er, Grace erst wieder anzurufen oder zu besuchen, wenn sie ihn ausdrücklich darum bat. Dabei verspürte er einen Anflug von Scham, den er sich nicht erklären konnte. Aber warum hätte er ein schlechtes Gewissen haben sollen? Er war doch bloß für sie da gewesen.
    Doch wie sich herausstellte, gelang es ihm nicht, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Er verbrachte einfach zu gern Zeit mit ihnen, und er und Grace verstanden sich prächtig. Es gab keinen Grund, weshalb sie nicht
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