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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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gelaufen ist», sagte sie, während sie sich die Hände mit dem Geschirrtuch abtrocknete.
    «Ja, auf der Treppe. Mir war nicht bewusst, dass meine Besuche hier ein Geheimnis sind, Grace.»
    Immerhin besaß sie den Anstand, zu erröten. «Sind sie gar nicht.» Sie verschränkte die Arme. «Azra hätte es bloß nicht verstanden.»
    «Aber sie war doch diejenige, die mich gefragt hat, ob ich dir helfen könnte.»
    «Aber sie wollte doch nur, dass du die Post hereinbringst und die Blumen gießt. Sie findet es komisch, dass alles wieder so eng geworden ist.»
    «So
komisch ist es nun auch wieder nicht, Grace. Okay, vielleicht ein kleines bisschen. Aber ganz bestimmt nicht völlig daneben, sonst hätte ich es wohl kaum getan.»
    «Ich weiß», sagte sie. «Aber wenn es um Männer geht, macht Azra sich nun mal Sorgen um mich. Ihrer Meinung nach lebe ich ohnehin schon viel zu sehr in der Vergangenheit.»
    «Hat es etwas mit Sarahs Dad zu tun?»
    Ein entrückter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
    «Sag jetzt nicht, das ist eine lange Geschichte», sagte er.
    Sie lachte. «So lang ist sie gar nicht. Ich habe mich mit Haut und Haaren in die Sache mit ihm gestürzt. Ich wollte es um jeden Preis. Dieses Gefühl der völligen Hingabe, ob es nun echt war oder nicht.»
    «Und dann?»
    Tränen schimmerten in ihren Augen. «Inzwischen kann ich mich nicht mal mehr richtig erinnern, wie er aussah», sagte sie. «Und das quält mich so sehr.»
    Er griff nach ihrer Hand, drückte mit seiner Rechten ihre Linke; es war wie ein Geheimzeichen zwischen zwei Verbündeten. «Tut mir leid», sagte er.
    Sie nickte und entzog ihm ihre Finger wieder; eine, zwei Sekundenlang spürte er noch die Wärme ihrer Handfläche. «Vielleicht solltest du lieber nicht mehr so oft vorbeikommen.»
    «Okay», sagte er, und dann: «War’s das?»
    Sie antwortete nicht, und so standen sie sich wortlos in der Küche gegenüber. Es war eine merkwürdige Zeit gewesen, die sie miteinander verbracht hatten. Er fragte sich, ob sie sich je wiedersehen würden. Doch irgendwie erschien ihm das Wort
Adieu
zu endgültig, und so sprach er es nicht aus, ebenso wenig wie sie.

    In den darauffolgenden Nächten konnte er nicht mehr schlafen. Er sah sich spätnachts alte Filme an, saß stundenlang vor dem Wetterkanal. Er ging weiter zur Arbeit, spulte die Gruppensitzungen mechanisch herunter. Konzentriert lauschte er den Geschichten der Teilnehmer, vergaß sie aber sofort wieder; wenn er die Sitzungen hinterher schriftlich zusammenfasste, konnte er sich kaum erinnern, was wer gesagt hatte, und seine hingekritzelten Notizen kamen ihm wie die Gedanken eines Fremden vor. Er rief niemanden an. Er lief fünf Meilen pro Tag, genoss die kalte Luft auf seiner erhitzten Haut. Im November überzog gefrierender Regen die kahlen Bäume mit einer dünnen Eisschicht; das Salz auf dem Bürgersteig knirschte unter seinen Füßen. Die Montreal Canadiens verloren gegen die Maple Leafs. Sein Lieblingsteam war ein echter Hühnerhaufen.
    Er fing nicht zu trinken an; er war keinen einzigen Tag krankgeschrieben. Er war nicht mal sicher, ob andere die Leere in ihm spüren konnten, ob sie mitbekamen, dass sein ganzes Leben nur noch aus mechanischen Abläufen bestand.
    Anfangs bemerkte er es gar nicht richtig, doch schließlich konnte er wieder durchschlafen. Das Joggen lenkte ihn ab, genau wie dieArbeit. Er hätte es sicher niemandem gegenüber so formuliert, dass sich seine Stimmung allmählich wieder zu heben begann; er hätte es einfach nicht zugeben wollen. Stattdessen hätte er gesagt, dass er aus einer Familie stammte, in der jedes Mitglied ein bestimmtes Talent besaß. Seine Mutter hatte die Gabe besessen, sich um andere zu kümmern. Malcolms Stärke bestand darin, glücklich zu sein. Und er wusste, wie man losließ.

    Als er einen dicken weißen Umschlag mit einer Briefmarke, auf der ein Weihnachtsbaum abgebildet war, aus dem Briefkasten fischte, erkannte er sofort Grace’ Handschrift. Eine Mischung aus Freude, schlechtem Gewissen und Reue ergriff Besitz von ihm. Sobald Feiertage nahten, war sie immer völlig aus dem Häuschen – sie liebte es, andere zu beschenken, am Valentinstag, zu Ostern, selbst am Memorial Day –, und ganz besonders zu Weihnachten. Sie fing bereits im September an, Geschenke zu kaufen, und versteckte sie unter ihrem Bett. Mitch musste lächeln, während er sich daran erinnerte.
Uns geht’s super
, stand auf der Karte.
Noch mal vielen, vielen Dank für all Deine Hilfe in
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