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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens
Autoren: Margot Käßmann
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Diesem »Kaff« bin ich entwachsen. Sie ist Ausdruck der Erfahrung, dass andere dich nicht verstehen mit deinem Engagement, es ist die Erfahrung der Fremdheit, die manche Christinnen und Christen machen, auch heute.
    Auch die Dichterin Hilde Domin hat die Erfahrung des Exils gemacht, des erzwungenen Weggehens – 1909 geboren, Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes, emigrierte sie kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Sie schreibt: »Man muss weggehen können / und doch sein wie ein Baum«. Ich verstehe das so: Deine Wurzeln darfst du bei aller Entfernung von der Herkunft nicht verleugnen. In vielen der Gedichte Hilde Domins klingt diese Erfahrung nach, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
    Heimat, das kann ein Ort sein. Beheimatet kann ich in einer Liebe sein. Der Familie. Einer Erinnerung. Einer Kirchengemeinde. Und unser Glaube kann Heimat sein, und mit ihm beheimaten wir uns auch mitten in dieser so vielfältigen, sich so schnell wandelnden Welt. Der Glaube, den wir mit Worten bekennen, auf die sich Konzilien lange vor uns geeinigt haben. Der Glaube, von dem wir lesen in dem Buch, das von den Erfahrungen der Menschen mit unserem Gott erzählt. Der Glaube, dessen Lieder wir singen in der Tradition unserer Väter und Mütter im Glauben. Ja, dieser Glaube gibt uns Wurzeln und Orientierung. Er beheimatet uns, schenkt Zugehörigkeit.
    Jesus, in die Synagoge nach Nazareth zurückgekehrt, biedert sich nicht an. Programmatisch liest er die prophetischen Weissagungen der Schrift und bezieht sie auf sich selbst: Er sei gekommen, um den Armen Gerechtigkeit zuzusprechen, Gefangenen die Freiheit, Blinden und Zerschlagenen das »Gnadenjahr des Herrn«. Er stehe dafür. Das ist natürlich eine Provokation in Nazareth. Was denkt er sich! Wie kann er eine prophetische Weissagung auf sich beziehen?
    Aber das ist auch eine Provokation heute. Die Armen werden als Subjekte in den Blick genommen. Sie sind nicht Almosenempfänger,
     sondern Menschen, die Gott ansieht, und die so zu angesehenen Personen werden. Da kann unsere Kirche sich nicht zurückziehen in vermeintlich heile Welten,
     in liturgische Gesänge, in dogmatische Auseinandersetzungen. Nein, die Nachfolge Jesu fordert sehr klaren und konkreten Einsatz für die Gerechtigkeit
     mitten in dieser Welt. Und sie muss sich gerade als Akteurin im Gesundheits- und Sozial»betrieb« klar machen, dass die »Armen« nicht einfach Objekte der
     Diakonie sind, sondern Subjekte des Glaubens. Wie kann das aussehen? Du und ich, wir können die Welt nicht grundsätzlich ändern. Aber wir werden uns auch
     nicht wegducken. Wir haben gemeinsam als Evangelische und Katholiken angeprangert, dass Deutschland auf Platz drei der Rüstungsexporteure aufgerückt
     ist. Keine positive Rekordmarke, wahrhaftig nicht! Wir beklagen die Kriege der Welt, aber wir verdienen an ihnen! Es wird erwartet, dass bis 2010 die
     30-Milliarden-Euro-Marke bei den Militärausgaben in unserem Land überschritten wird. 60 An dieser Stelle können
     wir aus den Ausführungen Jesu vor allem den Mut mitnehmen, aufrecht zu stehen, zu protestieren, dagegen anzutreten, dass unser Land am Elend der
     Minenopfer, der Bombenopfer, der Toten in den Kriegen, an unerklärten Kriegen und Bürgerkriegen der Welt auch noch verdient. Ja, da laden wir Schuld auf
     uns. Und wir müssen uns fragen, wie wir mit der Schuld, die wir auf uns laden, leben können. Wahrscheinlich nur durch Gottes Gnade.
    Wie geht Jesus mit dem Widerstand um, der ihm entgegenschlägt? Im Grunde provoziert er die kritischen Stimmen, und er provoziert auch durch den Verweis
     auf den Propheten Elia, der zunächst vertrieben wird und dann doch Erfolg hatte; so erzählt es der Evangelist Lukas. Er kam nach Hause und brachte eine
     große Weite mit. Manchmal ist es offensichtlich notwendig, weg zu gehen, um wieder nach Hause kommen zu können und Impulse zu geben. Dabei ist die Fremde
     oft nicht leicht zu ertragen. Undgerade in der Fremde ist unser Glaube oft auf eine harte Probe gestellt.
    Ich erinnere mich an eine Frau, deren Schicksal mich sehr bewegt hat. Vor wenigen Jahren habe ich Hilde Schneider 91-jährig beerdigt. Sie hat
     Schreckliches erlebt in ihrem langen Leben. Ihre Menschenrechte wurden ihr nach und nach genommen, amtlich dokumentiert ist das in ihrem Meldebuch: Als
     Christin jüdischer Herkunft wird ihrem Vornamen »Sara« hinzugefügt, aus der lutherischen Religion, durch »L« markiert, wird das Judentum, das »Pr« für die
    
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