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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Die Wassermasse, die dort unter meinem Leib vorbeiströmte, ergriff mich. Ich wollte dazugehören und in einer psychedelischen Jagd durch die Gänge rasen, immer schneller, vorbei an Filtern, Gittern und Turbinen, bis zu der Stelle, wo das Wasser sich in die Moldau ergoss.
    Rasch richtete ich mich auf, um mein Hemd auszuziehen. Ich fröstelte, doch ich wollte es genau wissen. Tief atmete ich den Geruch der feuchten Wände ein, das Fluidum einer geheimnisvollen Welt, und ergötzte mich an dieser maßlosen, unerschöpflichen Freiheit des Handelns und Fühlens. Ich streckte die Arme aus, als wäre ich ein Flugzeug, und ließ mich von meiner Phantasie durch die tropische Nacht tragen. Die Motoren brummten sanft unter meinem Brustkorb. Links unten Jakarta und schon bald vor uns: Singapur.
    Ich schloss die Augen.
    Nach einer Weile stand ich wieder auf und ging weiter durch den Tunnel. Ich glitt geradezu entlang der Wasserrohre.
    Der Gang endete in einem Raum, vielmehr in einer großen Nische, in der einige schwere Maschinen standen. Ich blieb dort stehen und leuchtete die raue Betonwand entlang. Plötzlich fingen meine Ohren ein entferntes Geräusch ein. Ich zuckte zusammen und sank instinktiv auf die Knie. Hektisch tastet ich am Gehäuse der Taschenlampe, bis es mir gelang, sie auszuschalten.
    Ich konnte nur noch lauschen, vorbei an meinem pochenden Herz und meinem Atem. Da war es wieder. Es waren Stimmen, ferne Schreie. Auf eine seltsame Art weinerlich und roh.
    Ich knipste das Licht wieder an und orientierte mich. Die Stimmen kamen aus einer Abzweigung, die sich zu meiner Linken befand. Ich sah mich um, blickte zurück in die dunkle Tiefe des Gangs hinter mir und dachte an das einzig Richtige: zurückzugehen. Doch diese Welt besteht nicht aus den Früchten richtiger und braver Entscheidungen. Sie ist durchgerüttelt von unlogischem Verhalten und unerklärbaren Zwängen. Und so sah ich wieder nach vorne und begann meinen langsamen Gang auf den Ärger zu.
    Nach zehn Metern schaltete ich die Taschenlampe aus und schlich nur noch blind weiter. Meine rechte Hand glitt dabei über die grobe Wand, als versuchte sie, meine Augen zu ersetzen. Die Stimmen wurden immer lauter. Ich begann zu verstehen, dass sie nicht in meiner Sprache redeten. Es hörte sich wie Deutsch an, doch das sprach ich damals noch nicht.
    Ich erreichte eine weitere Kreuzung und blickte vorsichtig um die Ecke. Nur wenige Meter entfernt sah ich zwei Männer im Schein eines rostigen Lichts. Der eine war an ein dünnes und endlos erscheinendes Rohr gekettet, das unter der Decke angebracht war. Er hing in seinen Fesseln und über sein Gesicht strömte Blut. Er hustete trocken, während sich der Speichel auf seiner Unterlippe zu langen Fäden verband und vor seine Füße tropfte. Der andere schwieg in diesem Augenblick. Er ging nachdenklich in diesen engen Katakomben auf und ab, als würde er seinen nächsten Schritt überlegen.
    Dann sah er kurz hoch zu dem Gefangenen und rief ihm halbleise etwas zu, das ich nicht verstand. Der Hängende röchelte und schluckte schwer. Der andere drehte sich nun vollständig um und ließ mich dadurch sein Gesicht sehen. Er besaß dichte Augenbrauen, unter denen graue, starre Augen leuchteten, und kantige Lippen. Er wirkte unausgeschlafen und gereizt.
    Gegen den kalten Betonstein gedrückt, bemerkte ich, dass mein Herz wie eine Lokomotive pochte.
    Der Mann sprach nun ganz leise, als erklärte er dem Hängenden schüchtern seine Gefühle. Dann plötzlich lief eine Welle des Zornes über sein Gesicht. Er trat auf den Gefangenen zu und ich sah etwas in seiner Hand aufblitzen. Der Hängende kreischte los, während der wütende Mann sich an einer der beiden, am Rohr befestigten Hände zu schaffen machte. Nur Augenblicke später hielt er dem heulenden Kerl seinen eigenen Finger unter die Nase.
    Unkontrolliert warf ich mich zurück um die Ecke und saß dort starr im Dunkeln, während ich die Hand auf meinen Mund presste. Aus der Finsternis drangen Schreie zu mir, immer lauter und immer scheußlicher. Ich versuchte, meinen Arm um den Kopf zu legen, um so die Ohren zu verschließen. Doch ich konnte die unverständlichen Sätze des Folternden nicht überhören. Sie brannten sich in mein Gedächtnis ein, wie die Inschrift auf einem Grabstein: »Fila vidakóme? Fila vidakóme?«
    Dann wurde es still. Meine Augen waren noch immer zusammengepresst und meine Arme um den Kopf gefaltet. Nur langsam hob ich meine Augenlider und senkte meine
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