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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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erklären, dass der Apostroph vollkommen fehl am Platz war. Das führte zumeist zu einem Streit zwischen Vater und Sohn. Ein Streit, dessen eigentlicher Inhalt stets Manzio selbst war. Der Sohn und sein Desinteresse, etwas Vernünftiges zu studieren, damit er nicht wie sein Vater, täglich um fünf Uhr aufstehen musste. Der Sohn und sein Desinteresse, wenigstens in Vaters Laden zu arbeiten, um eines Tages die Geschäfte zu übernehmen. Bis zum Horizont nur Klischees.
    Es gab niemals ein Treffen zwischen uns, bei dem nicht exzessiv geraucht wurde. Es hätte seltsam gewirkt. Wir drehten einen Dübel nach dem anderen. Ich meistens nur pro forma, da seine viel schöner, viel phallischer, viel präziser aussahen. Dabei plauderten wir über alles, was uns in den Sinn kam. Manzio nannte es die Rhizomatischen Sitzungen, was immer das hieß.
    Durch Manzio erfuhr ich, was Giftschrankliteratur ist. Denn das wiederum war »sein Ding«: das Studieren von politisch unkorrekten Büchern und befremdlichen Werken, die aus dem Zusammenhang ihrer Entstehungszeit gerissen höchst subversiv wirken konnten. Einige davon waren allerdings in jeglichem Zusammenhang unverdaulich.
    Auf seine Art war auch Manzio ein Sammler. Das Thema war ihm gleichgültig. »Hauptsach‹ krass«, meinte er immer und grinste dabei unschuldig.
    So zeigte er mir einen zerfledderten Südostasien-Reiseführer aus dem Jahr 1978, der sich an die damals aufkommenden Rucksacktraveller richtete. In den Empfehlungen wurde in dem Abschnitt »Nachtleben in Bangkok« von preiswerten Massagesalons und den billigsten Bordellen geschwärmt. Heute würde ein seriöser Verlag vermutlich einen Strafbefehl für dieses Kapitel bekommen. Das Buch vom ES von Georg Groddeck, das angeblich einen hymnischen Abgesang auf weibliche Vergewaltigungsphantasien darstellte, und die Sexuelle Revolution von Wilhelm Reich. Notre-dame-des-Fleurs von Jean Genet und The Book of Lies von Aleister Crowley gehörten genauso zu seiner Sammlung, wie Feldzug gegen den Gral von Otto Rahn, Vier philosophische Monographien von Mao Tsetung, die Goebbels-Tagebücher oder Kassetten mit den Liedern der Manson Family.
    Und natürlich lernte ich durch ihn auch das Herzstück der politischen Unkorrektheit kennen: das Buch Geschlecht und Charakter von Otto Weininger, dem Bruce Lee der Giftschrankliteratur.
    Alle diese neuen Namen und Begriffe nahm ich fasziniert auf, ohne wirklich eines der Bücher lesen zu wollen. Es schien mir, dass es manchmal interessanter ist, über Bücher zu hören, als sie selbst zu lesen. Vermutlich hätte ich aber früher oder später begonnen, in einigen davon zu schmökern, doch dazu sollte es nicht kommen. Unser gemeinsames Schicksal führte uns in den Untergrund, an einen Ort, an dem nur die Gegenwart herrschte und verstaubte Bücher keine Rolle spielten.
    Ich trank wieder einen Schluck Weinbrand. Es war bereits kurz vor eins. Ich saß mit einem verrückten Intellektuellen in einer engen Besenkammer, aß Hostien, trank Schnaps und wartete auf etwas.
    »Was ist passiert?«
    Ich blickte hoch, denn ich verstand Manzios Frage nicht.
    »Damals. Als du noch gerne in Katakomben geklettert bist.«
    Plötzlich wurde mir bewusst, wie verschlossen und heimlichtuerisch ich war. Ich hatte gelernt, meine Albträume zu verschweigen, und nie jemandem von der düsteren Begebenheit in der Kanalisation erzählt. Mein Leben war ein seltsamer Widerspruch. Ich war ein Nihilist, ein Faulpelz, stets verkrochen in seinem Loch. Doch obwohl ich mich seit frühester Kindheit so gewissenhaft von den Abläufen der Welt fernhielt, mich zuerst in meinem Kinderzimmer und später in verschiedenen winzigen Wohnungen in München verkroch, ereigneten sich in meinem Leben die seltsamsten Dinge. Als wollte ein zorniger Geist demonstrieren, dass es mir nicht bestimmt ist, die ruhige Kugel zu schieben und andere dafür bezahlen zu lassen.

Fragment: Die Horrormaschine
     
    Ich verstehe nicht viel von klassischer Musik. Sie ist manchmal schön und manchmal undurchsichtig. Wie eine Geliebte.
    Doch ich wohne in einem Haus, in dem sie unentwegt erklingt. Ein Mietshaus, das mehr einem Studentenwohnheim gleicht. Ich begegne den jungen Musikern aus der ganzen Welt oft im Treppenhaus, während sie ihre Tuben oder Kontrabässe zu den mickrigen Wohneinheiten zerren, die Herr Mahr, unser Vermieter und Hausmeister, Wohnungen nennt, die ich aber lieber als Zellen bezeichne.
    Manzio und ich gehen selten vor drei Uhr morgens schlafen. Kein
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