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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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meinte, dass solche Dinge einfach passieren. Mein Schulfreund Jirka, dem der Hund gehört hatte, saß tagelang stumm in seiner Bank und starrte ausgebrannt auf die Tafel. Wir anderen verstanden nicht wirklich, was in ihm vorging. Verlust kann erfahren, nicht erklärt werden.
    Sechs Tage später, samstagabends, stand ich erneut vor dem Kanaldeckel. Doch diesmal war ich allein.
    Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich müde über dem Horizont und die westlichen Fenster der sonst grauen, tristen Hochhäuser verwandelten sich in unzählige goldene Spiegel, die das Viertel in ein rostiges, warmes Licht tauchten. Es war mir zuerst nicht möglich, den Deckel zu bewegen. Ich sah mich nach einer Metallstange um und versuchte es erneut mit Hilfe der Hebelwirkung. Es funktionierte. Ich hatte nach einer zehnminütigen schweißtreibenden Arbeit das eiserne Rad ein wenig beiseitegeschoben. Nun zwängte ich mich hastig in den Spalt hinein, denn ich wollte nicht, dass im letzten Augenblick ein pflichtbewusster Rentner beim Abendspaziergang meinen Plan vereitelte.
    Unter der Erde hatte mein Vater das Sagen. Während hier im Norden der Stadt die Betonriesen wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schossen, baute er dazu die unterirdischen Kanäle und Rohrleitungen. Er erschuf den Rachen der Stadt, seine Gedärme. Er holte Leitungswasser hinein und leitete das Abwasser hinaus. Er verlegte elektrische Leitungen und baute Wartungsschächte. Ich habe ihn stets beneidet um diese täglichen Abenteuer. Mit einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf konnte er sich hier stundenlang aufhalten und nach Belieben durch die endlos wirkenden Gänge spazieren. Seine Arbeiter waren ein seltsames, gemischtes Volk — das erkannte ich schon als Kind. Es waren sogar einige Physiker und Chirurgen darunter. Männer, die während der Normalisation nicht bereit gewesen waren, ein Parteibuch zu beantragen oder irgendwann, irgendwo eine falsche Bemerkung über Mutter Partei gemacht hatten. Und Mütter schätzen keine Kritik.
    Hier schickte man sie tagtäglich mit den raubeinigsten Trinkern auf den Bau, damit auch sie nach einer Weile raubeinige Trinker wurden und die Welt der Lichtpartikel und Nervenzellen ihnen wie ein ferner, absurder Traum erschien.
    Im Gang angelangt, schaltete ich meine Taschenlampe ein und ging bedächtig los. Was wollte ich hier? Was trieb mich hinab in die Finsternis? Vielleicht die Lust an einem kleinen Geheimnis, die junge Knaben seit Menschengedenken in Schwierigkeiten bringt. Vielleicht ein Trieb. Perversion... Das Abenteuer, in die Innereien der Stadt hineinzuklettern. Schon als Fünfjähriger hatte ich fasziniert Geschichten über Jonas im Bauch des Wals gelauscht, oder gar von Baron Münchhausen, der ein ganzes Schiff in den Verdauungstrakt eines Wals steuerte. Etwas in mir verstand vom ersten Tag an, dass man zuerst verschlungen werden muss, um einen Weg hinaus zu finden.
    Vielleicht wollte ich einfach nur mehr über meinen Vater erfahren. Er nahm sich zunehmend weniger Zeit für seine Familie. Nach Hause kam er meistens, wenn ich schon schlief. Oft tauchte er tagelang gar nicht auf. Mutter erzählte mir, das sei wegen der verstärkten Bauplanung in der Stadt, die ihn von uns fernhielt. Sie wirkte nicht sehr traurig, als sie mir das sagte. Außer Frage stand jedoch, dass mich mein Vater angesichts meiner unterirdischen Aktivitäten zu Hackfleisch verarbeitet hätte.
    Feine Staubpartikel schwebten und irisierten in dem nun einsa men Lichtstrahl meiner Lampe und nach hundert Metern hatte ich die bereits beschriebene Biegung erreicht. Selbstbewusst ging ich weiter, doch nach weniger als hundert Schritten blieb ich stehen. Die Luft atmete sich gut, und ein weiterer kindlicher Aberglaube wurde widerlegt. Es konnte sich nur um eine Geschichte handeln, die uns Erwachsene eingeflüstert hatten. Jedes Kind sollte zuhause über die Jahre hinweg eine große Liste führen. Auf der einen Seite sollte es Striche machen für jede Wahrheit, die es von seinen Eltern zu hören bekommt, und auf der anderen Seite für jede Lüge. Für die Lügen sollte es allerdings deutlich mehr Platz auf der Liste einplanen.
    Ich horchte an der großen Wasserleitung und stellte erstaunt fest, dass sie diesmal rauschte und plätscherte. Ich legte mich bäuchlings auf das Rohr und streckte mich aus. Meine Taschenlampe schaltete ich aus, denn ich wollte die Dunkelheit spüren. Erst jetzt, in einem Zustand absoluter Ruhe fühlte ich die feine Vibration der Wasserleitung.
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