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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Wecker und keine Knute wartet auf uns. Keine kalte S-Bahn und kein kaltes Büro. Wir sind frei. Befreit von der schlimmsten Geißel neben der Erfindung der Werbeblöcke: befreit von einem Wecker.
    Doch in den Morgenstunden stimmen meine Nachbarn ihre Instrumente und üben anschließend pflichtbewusst. Sie sind das genaue Gegenteil von mir, und ich bin ihnen dafür dankbar.
    Hinter der Wand, gleich neben meinem Bett, lebt eine Pianistin. Sie heißt Satoko, und die Musik, die sie jeden Morgen pünktlich um acht Uhr anstimmt, besteht laut Manzio überwiegend aus Chopin und Mozart. Der wohnt ein Stockwerk tiefer, direkt unter Satokos Wohnung.
    Ihre Finger sind wertvoller als mein Leben. Daran besteht kein Zweifel. Sogar durch die Wand kann ich spüren, dass ihr Klavierspiel etwas besonderes ist. Wäre ich ein Kunstfreund, müsste ich täglich heimlich Rosen vor ihre Tür legen und davon träumen, Champagner aus ihren Schuhen zu trinken. Zum Glück bin ich kein besonderer Kunstfreund. Aber ich wette, Manzio, mein Satyr und Einstiegshelfer in die Welt des Subversiven, hat solche Phantasien.
    Auf der gegenüberliegen Seite lebt ein Hornist. Das ist ein weniger glücklicher Umstand, verstärkt dadurch, dass er sich noch verbissen in der Welt der Tonleitern herumschlägt und hierbei nicht wirklich Fortschritte zeigt. Doch bei meinem kleinen Problem macht ihn das zu einem idealen Helfer.
    Über mir wohnt ein Tenor. Noch ist er mehr ein Terror, der sich obendrein gerne am Klavier begleitet. Seine Stimmbänder sind wie Gewitter und die Arien wie Stürme, die in einer Herbstnacht die Schornsteine durchfegen.
    Unter mir, direkt neben Manzios Zelle, lebt eine Violine. Violinen sind nicht leicht zu lieben. Sie sind wie schwierige Menschen, die wir als nachdenklich und leise kennen lernen und die uns dann mit ihren jähzornigen Ausbrüchen schockieren. So weiß ich nie, was unter mir als nächstes passiert.
    Die Mehrfachbeschallung, die oft zu den seltsamsten Uhrzeiten stattfindet, ist natürlich streng kakophonisch und vermutlich nur noch mit Hilfe der Chaostheorie erfassbar. Doch ich bin nicht verärgert, dass ich mittags beim Geschmack des ersten Morgenkaffees stets das Gefühl habe, am Rande eines Orchestergrabens zu sitzen. Ich liebe meine Nachbarn, und sie wissen es nicht.
    Die wiederkehrenden Albträume suchen mich seit meiner Kindheit heim. Eine Horrormaschine in meinem Kopf. Sie kommen unangemeldet in unregelmäßigen Abständen. Saturnine Schergen. Mindestens einmal im Monat brechen sie die Grenzen der Realität nieder und offenbaren mir Dinge, die Gott in einem wenig schmeichelhaften Licht erscheinen lassen.
    Im Morgengrauen wird der Schweiß auf meiner Stirn zu Tau. Dann finde ich mich wieder in einer Welt der Verdammnis und werde geführt an Orte, die nach Desinfektionsmittel und verbranntem Fleisch riechen. Ich werde gezwungen, in offene Wunden zu sehen, die mir wie Delikatessen offeriert werden. Ich sehe schwarze unterirdische Flüsse, die im Licht der Fackeln wie dunkler Wein rot schimmern, während sie von mir überquert werden.
    Doch manchmal, wenn die Agonie am unerträglichsten wird und aus den Wunden Tiere kriechen, die Haut der Körper Flammen fängt, die zerschundenen Schöße der Frauen sich wie Pforten öffnen und der Blutquell blasse, dürre Leiber zu meinen Füßen heran spült — dann vernehme ich nicht selten die Stimme von Ariadne, deren Faden aus Klängen gesponnen ist. Und dann beginne ich mich inmitten meines Traums zu erinnern, zu begreifen, dass meine unbekannten Freunde da sind, damit ihre Zaubermusik das finstere Pathos verdrängt.
    Erwachen.
    Aufatmen.
    Lauschen...
    Bei den Klavierklängen von Satoko-san weiß ich, dass ich es hinter mir habe. Dass ich zurück bin. Zurück in einer Welt, die mir zwar hoffnungslos und trüb erscheint, die jedoch ohne Blutfontänen auskommt und ohne Motten, deren Flügel hysterisch gegen die Glaswände einer Laterne schlagen.
    Ich verstehe nicht viel von klassischer Musik. Sie ist manchmal schön und manchmal undurchsichtig. Wie eine Geliebte. Doch für mich ist sie eine Freundin in der kalten, schweren Nacht. Ich werde hier niemals wegziehen können, denn die Stille im Morgengrauen wäre wie eine schwarze Leinwand für all den Schrecken, der heimlich in meinem Schädel lauert.

1.03 Claustrophilia
     
    Nero, der Hund, war damals gestorben. Es geschah noch in derselben Nacht, nach unserem Gruppenausflug. Er hatte sich an der toten Ratte vergiftet. Irgendjemand
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