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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Ellbogen.
    Er stand über mir. In seiner Hand hielt er eine elektrische Laterne, mit der er in mein Gesicht zielte. Ich saß starr und zitterte wie ein in die Ecke gedrängtes Kaninchen. Sein zweiter Arm tauchte aus dem Licht und griff nach meinem Hemd. Mühelos hob er mich auf und stellte mich auf die Beine. Ich strauchelte, doch sein fester Griff wanderte zu meinem Kragen und hielt mich wie eine Holzpuppe auf den Beinen. Ich spürte eine heiße Flüssigkeit entlang meiner Oberschenkel rinnen. Er führte mich an meiner Hand wie ein Opferlamm um die Ecke. Dort hing halb bewusstlos der andere Mann in seinen Fesseln und wimmerte leise.
    Ich wurde ihm gegenüber abgestellt und rutschte apathisch zu Boden. Zeit fühlte ich keine mehr. Ich war nur ein starres Bündel aus Reflexen und Zuckungen. Wie ein Insekt in Spinnweben.
    Der Mann, der die Situation kontrollierte, holte schließlich eine Pistole hervor und sagte ein kurzes, leises »Vivenden ak ondi fende.«
    Dann drückte er sie gegen den Kopf des klagenden Gefesselten und ich hörte zum ersten Mal mit eigenen Ohren dieses charakteristische Geräusch. Es klang anders als im Fernsehen. Es war laut und trocken und hallte noch lange aus den dunklen Gänge der Kanalisation zurück.
    Es gibt so wenig zu sagen über das, was dann geschah. Der Unbekannte neigte sich zu mir, die rauchende Pistole noch immer in seinen Händen, und sah mich ausdruckslos an. Er mochte dort zehn Sekunden verharrt haben, oder Stunden. Ich erinnere mich nur an einen Geruch nach Silvester-Feuerwerk und an den Druck seines Arms, während er mich hochhob und mit mir durch die dunklen Korridore schritt. Ich verlor schließlich das Bewusstsein.
    Als ich erwachte, standen zwei Polizisten über mir. Sie trugen grüne Mützen mit den zweischwänzigen Löwen und redeten auf mich ein. Es war bereits Nacht, doch ich spürte noch die Hitze des Tages im Asphalt des Gehsteigs. Die Polizisten diskutierten mit einigen Passanten. Ich wurde auf den Rücksitz des orangeweißen Shiguli gesetzt. Im Auto roch es nach kaltem Zigarettenrauch und Benzin. Wir fuhren durch die nächtliche Stadt, nur wenige Straßen weiter, zu der nächsten Polizeistation.
    Ich sagte kein Wort. Ich antwortete nicht auf Fragen, und die Stimmen der Menschen um mich erschienen mir hohl und bedeutungslos. Ich schwieg auch, als mich meine Eltern abholten. Sie wirkten gereizt und aggressiv. Ich vermute, mein Vater hätte unter anderen Umständen Schwierigkeiten bekommen, doch als bedeutender Städteplaner in diesem Viertel war er nicht ganz ohne Einfluss. Doch vermutlich musste er meinetwegen einige Gefälligkeiten verspielen.
    Ich wurde nach Hause gebracht und schwieg ganze drei Tage. Genauso wie Jirka.
    Seit diesem Tag ist nie wieder etwas gewesen wie zuvor.
    So viele Menschen möchten es vermeiden, sich wie Dutzendware zu fühlen. Sie möchten Individuen sein. Sie möchten aufregende Dinge erleben und bedeutend sein. Und so viele sind bereit, alles dafür zu geben, um Kontrolle über ihr eigenes Leben zu besitzen. Doch es gibt keine Kontrolle. Es gibt nur Entscheidungen. Am Ende gibt es stets nur zwei Arten von Menschen. Jene, die den Kolonialwarenladen des Schicksals betreten und sich dort nach Lust und Laune bedienen und dabei riskieren, an ihrer Kühnheit zu scheitern, und jene, die im Dunkel der Nacht verharren und zitternd bangen, dass der Handlungsreisende der Bestimmung an ihre Tür klopft. Der dunkle Mann mit dem Universalschlüssel, den keine Tür ein- oder aussperren kann.
    Wir Menschen sind nicht ebenbürtig im Augenblick unserer Geburt, und einigen von uns bleibt sogar die Geburt selbst verwehrt — doch in der Einsamkeit des Todes sind wir alle gleich. Niemand ist so emanzipiert und frei von Vorurteilen wie der Tod. Durch die Hintertür hatte ich mich heimlich in eine Welt geschlichen, die ich noch gar nicht verstehen konnte. Doch ich hörte an diesem Tag auf, an Zufälle zu glauben. Ich hörte auf, all die naiven Lügen zu glauben, die man den Menschen erzählt, damit sie stillhalten.
    Und ich besaß ein Geheimnis.
    Manzio hatte nachdenklich meiner Geschichte gelauscht und schien zu begreifen, dass er der erste Mensch war, dem ich davon erzählte.
    »Hast du erfahren, wer das war?«
    »Als mein Vater am nächsten Tag aus der Arbeit kam, war er recht unruhig und erzählte meiner Mutter, dass sich in einem der neuen Kanalschächte ein Mann erschossen hatte.«
    »Wusste man warum?«
    »Ich glaube mein Vater hatte erzählt, dass der
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