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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Mann nicht ganz richtig im Kopf war und viel trank. Angeblich soll er von seiner Frau verlassen worden sein. Aber ich wusste in diesem Augenblick, dass mein Vater log.«
    Manzio nickte nachdenklich. Dann nahm er wieder einen Schluck Weinbrand und reichte mir den Flachmann.
    »Hat dich das... Quasi... Verändert?« fragte er zögerlich.
    Ich zog meine Mundwinkel nach unten und dachte einige Augenblicke nach.
    »Wenn ich jetzt so zurückdenke, glaube ich, dass es mich leiser gemacht hat.«
    »Leiser?«
    »Nachdenklicher...« Ich überlegte, ob ich ihm die ganze Wahrheit sagen sollte. Was konnte es schaden?
    »Danach begannen die Albträume.«
    »Albträume?«
    »Ich träume manchmal Sachen...« Darüber zu sprechen verursachte mir Unbehagen, als hätte jemand in diesem Kämmerchen die Temperatur erhöht und begonnen, die Luft raus zu saugen. »Blutige Sachen... Aber in einer Echtheit, die normale Träume blass erscheinen lässt. Hast du auch solche Albträume?«
    Manzio schüttelte den Kopf.
    »Dachte ich mir«, sagte ich leise. »Ich hatte als Kind geglaubt, dass jeder solche Albträume hat. Irgendwann fing ich an zu verstehen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Meine Eltern brachten mich zu einem Psychiater, als ich dreizehn war. Dort erfuhren sie, dass ich an einer affektiven Psychose litt. Während sie über mich sprachen, als wäre ich nicht im Zimmer anwesend, fielen Begriffe wie »endogene Depression« und »Zyklothymie« . Natürlich hatten meine Eltern keine Schwierigkeiten, es sofort zu glauben. Einer braucht sich nur einen weißen Mantel umzuhängen und schon hat er jedermanns Vertrauen.«
    »Das ist eine krasse Story. Kein Wunder, dass du ´n Hau weg hast.«
    Er lachte leise auf und stieß mich mit dem Ellbogen an.
    Idiot, dachte ich nur. Wer schleppt hier wen mitten in der Nacht zu einem Stelldichein in der Besenkammer? Ein wenig bedauerte ich, Manzio mein Geheimnis anvertraut zu haben, denn zumindest in diesem Augenblick fühlte ich mich dadurch nackt und angreifbar.
    »Wohin führen die Türen eigentlich?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
    »Dunkle Keller und Lagerräume und endlos erscheinende lange Gänge«, erzählte Manzio. »Das muss alles noch vor dem Krieg entstanden sein. Ein Netzwerk aus Luftschutzbunkern und Vorratskammern. Ich habe mich da nur kurz umgesehen.«
    Ich hörte ihm nur mit halben Ohr zu und blickte besorgt auf meine Uhr.
    »Er wird kommen«, versicherte mir Manzio mit leiser Stimme. »Das Böse kommt immer... Es braucht keine Hoffnung.«
    An der Wand hing ein alter chinesischer Kalender. Die Farben waren blass und der Druck etwas unscharf. Ich konnte nicht sagen, welchen Monat das oberste Blatt darstellte. Vermutlich etwas Sommerliches. Doch das Jahr war zweifelsohne 1984. Der Kalender schien seit dem nicht mehr gewendet worden zu sein. Das Foto zeigte lachende Schüler. Sie trugen gelbe Latzhosen, weiße Hemden und die unmissverständlichen roten Tücher um den Hals. Ihre Hände streckten sich hoffnungsvoll gegen den Himmel und ihre Gesichter strahlten lachend. ›Sie sind heute alle in meinem Alter‹, dachte ich. ›Erleben vielleicht dieselben Dinge. Frauen. Geldprobleme. Konflikte mit Vätern.‹ Ich musterte die eleganten chinesischen Zeichen entlang des Fotos. Erst langsam wurde mir bewusst, dass dieser alte Kalender genauso widersprüchlich und rätselhaft war, wie die vier Kraniche neben dem Hauseingang.

1.04 Roman
     
    Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht gesehen. Und doch ist er in meinem trüben Rückblick auf ein Familienleben eine Ausnahme. Mein kleiner Bruder. Ich liebe ihn. Es ist schade, dass wir so unterschiedlich sind und das Leben uns beide in verschiedene Richtungen treibt. Ich hoffe, er behält stets die Zügel in der Hand und bezahlt keinen zu hohen Preis für seine Eskapaden. Ich habe meinem Bruder viel zu verdanken. Allem voran, dass er nach mir kam und somit die Aufmerksamkeit meiner Eltern auf sich lenkte. So konnte ich leichter und unbehelligt in meiner eigenen Welt leben.
    Im Gegensatz zu mir hatte Roman einen wesentlicher ausgeprägten Familiensinn. Er fand stets, dass wir alle zusammengehörten und dass man gemeinsam in den Zoo gehen sollte. Er war es stets, der meine Eltern am Freitag an den Ärmeln zog und fragte, ob wir am Wochenende einen Ausflug in die Natur unternahmen. Ich dagegen war der Eskapist, der Otaku — er war der Sportler und Daddys große Hoffnung.
    Das Bild bekam seine ersten Risse, als ich fünfzehn war und Roman
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