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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis
Autoren: Marjorie M. Liu
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Ferne hörte ich Sirenen. Also reagierten sie auf meinen Anruf und waren hierhin unterwegs. Ich musste aufstehen. Ich versuchte es und stürzte. Ich biss meine Zähne zusammen und grub meine Nägel in den Beton. Ich versuchte es erneut.
    Diesmal gelang es mir, aufrecht stehen zu bleiben. Ich ging los, stolperte zwar, fiel jedoch nicht mehr hin. In meinem Kopf hämmerte es. Ich krümmte mich einmal, ging dann aber weiter, weil ich Angst hatte anzuhalten, und würgte krampfhaft. Ich hatte zwar das Gefühl, mir komme der Magen durch den Hals hoch, aber der Schmerz in meinem Kopf wurde nicht schlimmer, sondern ließ langsam nach.

    Zitternd berührte ich meine rechte Schläfe, ertastete die glatte unversehrte Haut. Einen Augenblick lang erfüllte es mich mit Ehrfurcht, dass ich noch lebte.
    Man hatte schon häufiger auf mich geschossen, sehr häufig sogar. Und überall. Ich hätte nie etwas gefühlt. Tagsüber prallten Kugeln einfach von mir ab. Am Tag hätte mich sogar eine Atombombe treffen können, ich hätte es trotzdem überlebt - und zwar ohne einen Kratzer davonzutragen. Nachts war das etwas anderes, wenn sich die Jungs von meinem Körper geschält hatten. Ich hatte ihre Fähigkeit, mich am Leben zu erhalten, noch nie unterschätzt.
    Jedoch niemand, kein Einziger, hatte bisher die Klugheit oder den Mut besessen zu versuchen, mich genau in diesem Augenblick zwischen Nacht und Tag zu töten: während der Verwandlung zwischen sterblich und unsterblich.
    Das Timing war nahezu perfekt. Einen Augenblick früher, und die Jungs hätten den Schützen getötet, noch bevor er die Kugel hätte abfeuern können. Einen Moment später, und ich wäre unverwundbar gewesen. Was auch genau der Fall gewesen war. Der Bruchteil einer Sekunde hatte mich gerettet.
    Das war verdammt knapp gewesen, viel zu knapp. Ich musterte die Schatten, sah außer Lagerhäusern und dunklen Fenstern jedoch gar nichts. Und das Funkeln der Geschäftsstadt von Seattle im Norden. Die Lichter der Stadt wirkten wie erstarrt, wie unbewegliche Glühwürmchen. Nichts schien ungewöhnlich. Nirgendwo winkte ein Schütze mit einer Fahne. Aber ich fühlte mich beobachtet. Irgendjemand befand sich irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Er musste weit entfernt sein, sonst hätten die Jungs seine Anwesenheit lange vor dem Angriff gespürt.
    Ein Zombie, dachte ich. Das musste ein Zombie sein. Kein
anderer, der wusste, um was es sich bei mir handelte, würde versuchen, mir etwas zu tun.
    »Du bist fast gestorben«, sagte ich laut. Ich musste die Worte hören, meine Stimme hören - als hätte ich irgendeinen Beweis gebraucht, dass ich noch lebte. Maxine Kiss. Fast ausgelöscht, mit einer Kugel in den Kopf - genau wie meine Mutter.
    Ein Zombie hatte sie getötet. Aber das war etwas anderes gewesen.
    Denn damals war ihre Zeit zu sterben gekommen.

2
    I ch brauchte dreißig Minuten, um zum Coop zurückzukehren. Der Fußmarsch tat mir gut. Als ich die Hintertür der Küche des Obdachlosenheims erreichte, hatte ich aufgehört zu zittern. Meine Knie und Hände fühlten sich auch nicht mehr so schwach an. Aber ich spürte noch immer, wie die Kugel versuchte, sich in meinen Kopf zu bohren. Außerdem konnte ich einfach nicht die Gewissheit ignorieren, dass derjenige, der auf mich geschossen hatte, genau wusste, wo ich lebte. Das bedeutete, dass er wahrscheinlich auch die Leute kannte, an denen mir etwas lag.
    Ich konnte die Nacht kaum erwarten.
    Es war heller geworden, der Himmel war bewölkt. Aber es war immer noch düster, und der Regen hatte sich verstärkt. Ich selbst blieb jedoch knochentrocken. Selbst wenn sie schliefen, liebten es die Jungs, Dinge zu verzehren. Das Wasser, das meine Haare und meine Kleidung durchtränkt hatte, bildete da keine Ausnahme. Nach Tagesanbruch war es innerhalb von Minuten aufgesogen worden, und jetzt verschwanden die Regentropfen nur Sekunden nachdem sie mich getroffen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass niemand allzu scharf darüber nachdachte, wie ich es schaffte, trocken zu bleiben, obwohl doch alle anderen,
die hereinkamen, so aussahen, als wären sie in einem Wasserfass untergetaucht worden.
    Das war eben das Problem mit Geheimnissen. Es gab immer etwas, das einen verraten konnte. Vor allem, wenn man zu lange an einem Ort blieb.
    Das Coop erstreckte sich über einen ganzen Häuserblock. Es war eine Anordnung von Lagerhäusern, die renoviert und miteinander verbunden worden waren, um als Zentrum für Obdachlose zu fungieren. Es bot ihnen
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