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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis
Autoren: Marjorie M. Liu
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meine Fingerabdrücke ab, als mir einfiel, dass ich meine Handschuhe hätte tragen können. Ich war noch immer durcheinander und konnte nicht mehr logisch denken. Am liebsten wäre ich zu dem toten Mädchen zurückgegangen und hätte an ihrer Leiche gewartet - als wenn das einen Unterschied gemacht hätte. Als wenn das irgendwie den Schmerz und die Einsamkeit des Mordes an ihr hätte lindern können.
    Stattdessen ging ich weiter, in westlicher Richtung von dem Verschiebebahnhof fort, nach Chinatown. Ich sah niemanden, bemerkte jedoch das kurze Aufleuchten von Scheinwerfern, die ferne Kreuzungen überquerten. Das Rumpeln der Züge erschien mir lauter als vorhin. Die Luft schmeckte schärfer und wirkte plötzlich elektrisch aufgeladen, als wären in der ganzen Stadt sämtliche Wecker angesprungen und ich könnte den Puls Tausender Augen spüren, die sich gleichzeitig öffneten. In meinen Ohren summten Dek und Mal ein anderes Stück von Bon Jovi: Have a Nice Day .
    »Ihr auch«, antwortete ich heiser, griff hinauf in mein Haar und kraulte ihre Nacken. »Bis heute Nacht.«
    Ich blieb im Schatten stehen, außerhalb der Sichtweite der Straße, und die anderen Jungs tauchten aus der Dunkelheit auf, näherten sich mir, umschlangen meine Beine und drücken ihre Wangen an meine Knie. Die Jungs liebten es, aufgesammelt zu werden. Ich strich ihnen mit den Knöcheln über ihre warmen Kiefer und genoss ihr vibrierendes Schnurren. Ihre Haut dampfte im Regen.
    Zee blickte zu mir hoch und zog an meiner Hand, bis ich mich vor ihn hinkniete. Behutsam nahm er mein Gesicht zwischen seine Klauen und sah mir in die Augen. Sein Blick
wirkte so traurig und mitfühlend, dass meine Augen schon brannten.
    »Maxine«, schnarrte er liebevoll, »süße Maxine. Nimm es nicht so schwer.«
    Wir hatten nur noch wenige Sekunden, nicht mehr. Ich küsste meine Finger und drückte sie an seine knochige Stirn. Dann dachte ich erneut an meine Mutter, mir wurde das Herz schwer. So hatte sie den Jungs immer gute Nacht gesagt, in all den Jahren, in denen sie ihr gehört hatten. Heute Nacht konnte ich einfach nicht aufhören, an sie zu denken.
    »Träumt«, flüsterte ich. »Schlaft fest…«
    Weiter kam ich nicht. Jemand schoss mir in den Kopf.
    Einfach so. In die rechte Schläfe. Es war gar nicht laut, doch der Einschlag erschütterte meinen ganzen Körper, und dieses Gefühl vergrößerte sich mit quälender Klarheit, während sich die Kugel in meinen Schädel bohrte, mit dem unausweichlichen Druck eines kleinen, runden Objektes, das mein Leben zu zerstören vermochte. Ich konnte es fühlen. Ich konnte es richtig fühlen. Mein Hirn würde wie eine überreife Wassermelone explodieren. Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu haben.
    Aber in diesem Augenblick, in diesem Sekundenbruchteil zwischen Leben und Tod, da berührte die Sonne irgendwo jenseits der Wolken den Horizont…
    … und die Jungs verschwanden in meiner Haut.
    Die Kugel prallte ab. Die Wucht des Aufpralls wirbelte mich herum… wie eine Puppe. Ich fiel auf Hände und Knie, blieb dort hocken, betäubt und wie erstarrt. Ich konnte den Schlag des Geschosses immer noch spüren; die Empfindung war so instinktiv, dass ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn ich an meine Schläfe gegriffen und die Kugel gefunden hätte, während sie einen Pfad in meinen Schädel grub.

    Ich berührte meinen Kopf, nur um mich zu überzeugen. Ich ertastete das Haar und die unverletzte Haut. Keinerlei Blut. Mein rechter Arm zitterte, und ein dumpfer, gebrochener Schmerz strahlte von meiner Stirnhöhle über die Schläfen bis zur Basis meines Gehirns. Mein Herz hämmerte so heftig, dass ich kaum atmen konnte. Ich sah nur den Asphalt und meine Hände.
    Meine verwandelten Hände. Noch vor wenigen Augenblicken war meine Haut blass und glatt gewesen, doch jetzt bedeckten Tätowierungen jeden Zentimeter: schwarze verschlungene Schatten, Schuppen und silberne Muskeln, die von glänzenden Adern organischen Metalls durchzogen wurden. Meine Fingernägel schimmerten wie schwarze Perlen und waren hart genug, um ein Loch in festen Fels zu graben. Von den Unterseiten meiner Handgelenke starrten mich rote Augen an. Rohw und Aaz. Ich schloss die Augen, versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und fühlte, wie fünf Wesen an meiner Haut zupften. Dämonen, die in meiner Haut lebten. Geister, Herzen und Träume, die bis zu meinem Tod an mein Leben gebunden waren.
    Meine Freunde, meine Familie. Meine gefährlichen Jungs.
    In der
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