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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis
Autoren: Marjorie M. Liu
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einen vorübergehenden Schutz, Mahlzeiten und noch eine ganze Menge anderer Dienste an. Firmen und auch private Spender finanzierten einiges davon, aber längst nicht genug, um etwa Räume nach jemandem zu benennen oder goldene Sterne zu verleihen. Fast alle Rechnungen wurden von einem einzigen Mann bezahlt: Grant Cooperon. Und dem war das auch ganz lieb so. Autonomie war ja schlichtweg unbezahlbar.
    Möwen kreisten kreischend über dem gesamten Komplex. An der Verladerampe drängten sich Lieferwagen, weiße, nicht gekennzeichnete Lieferwagen. Das Obdachlosenheim schickte mitten in der Nacht Fahrzeuge los, die die örtlichen Bäckereien und Lebensmittelläden abklapperten und Lebensmittel aufsammelten, die nicht mehr als einen Tag alt waren und sonst vermutlich einfach weggeworfen werden würden. Donuts und Brot machten den Löwenanteil aus, aber gerade jetzt kam ich an einigen großen Kisten mit Orangen vorbei, die durch den Hintereingang hineingefahren wurden. Einer der neuen Freiwilligen, eine junge Frau mit blonden Dreadlocks, die unter ihrer gestreiften Hanfmütze herauslugten, schwankte vor mir unter dem Gewicht zahlreicher Milchkartons, die sie in den Armen gestapelt hatte.
    Ich schnappte mir zwei, nickte brüsk, als sie erschrak und
sich bedankte, und ging dann weiter. Ich hatte meine Lederhandschuhe wieder angezogen, versteckte meine Hände, und der langärmelige, blaue Rollkragenpullover verbarg den Rest meines Oberkörpers. Meine Garderobe war recht übersichtlich. Mit wenigen Ausnahmen ließ ich niemals jemanden meine Tätowierungen sehen. Das löste einfach zu viele Fragen aus, konnte auch zu viele Probleme hervorrufen. Immerhin verschwanden die Jungs bei Sonnenuntergang von mir und schliefen nie zweimal am gleichen Ort.
    Ich fühlte sie überall auf mir, unter meinen Haaren, zwischen meinen Zehen, und auch an Orten, von denen ich nicht sprechen kann. Mein Gesicht war der einzige Bereich, den sie nicht regelmäßig beschützten, ihr einziges Zugeständnis an meiner Eitelkeit. Trotzdem zeigte sich die winzige Spur eines tätowierten Körpers direkt an meinem Haaransatz, unmittelbar unter meinem Ohr - an meinem Kiefer. Eine Ahnung von dunklen Schuppen, das silberne Schimmern von Deks Schwanz. Er war gerade groß genug, um die einzige Narbe zu bedecken, die mein Körper aufwies.
    In der Küche herrschte Hochbetrieb. Uhren, die wie Katzen geformt waren, hingen an buttergelben Wänden, und um eine weiße Wandtafel, wo die täglichen Jobs ausgeschrieben wurden, hingen ein Dutzend Kalender. Irgendjemand schmückte diese Wandtafel ständig mit Fotos von Blumen. Fett brutzelte und erfüllte die Luft mit dem Duft von Schinken und Rührei. Das Radio knisterte, eine tiefe Stimme mit leicht ironischem Unterton sprach gerade den Wetterbericht: Regen, Regen und noch mehr Regen, und vielleicht eine kleine Pause heute Nacht - und damit eine Möglichkeit, den Mond zu sehen. Um mich herum drängte sich eine zumeist weibliche Mannschaft von Yuppies und Hippies, ein Konglomerat aus Perlen und Hanf,
Kaschmir und Fleece, Slipper und Birkenstocks. Sie erzeugten eine erdige, respektlose Atmosphäre, die trotzdem einen Hauch von Großspurigkeit hatte. Die typische Uniform von Seattle.
    Ich blieb noch einen Moment lang da, sog die Atmosphäre ein, lauschte dem Lachen und den Rufen, dem Klappern von Pfannen und Töpfen, dem Quietschen von Gummisohlen auf den Fliesen. Es waren geschäftige Geräusche von Leuten, die etwas von ihrer Arbeit verstanden. Das gefiel mir, es war richtig heimelig. Und erfrischend normal. Tagsüber hatte ich kein Gefühl für Temperaturen, aber die Geräusche eines guten Lebens wärmten mich von innen, wie die Sonne es niemals könnte, ganz unabhängig vom Wetter.
    Genau dafür kämpfst du, sagte ich mir. Für all diese entzückenden Momente der Welt.
    Ich stellte die Milchkartons auf den edlen Stahltresen neben einige Tüten mit gefrorenen Blaubeeren, die auftauen sollten. Daneben lagen Muffins. Ich nahm mir einen und biss hinein. Banane-Walnuss. Sehr gut. Plötzlich war ich furchtbar hungrig. Schließlich musste ich ja auch einige Körper ernähren. Und angesichts dessen, wie mein Morgen angefangen hatte, würde ich vielleicht auch eine Weile keine Chance bekommen, etwas zu essen. Und ich war gar kein liebenswürdiger Miesepeter, wenn mein Blutzucker in den Keller fiel. Teufel, nein!
    »Du kommst spät.« Die Stimme von rechts neben mir klang ruhig. Sie erhob keinerlei Anschuldigung, machte lediglich eine
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