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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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hatte, zu leben.
    Brett Cahill bekam zwei Wochen Urlaub, die er nutzte, um sich zu erholen und seiner Frau mit dem Baby zu helfen. Er wusste nicht, ob er gut daran getan hatte, zu verschweigen, dass er Vater geworden war, weil er nicht von den Ermittlungen abgezogen werden wollte. Aber zum Zeitpunkt von Bob Fairziaks Verhaftung war er völlig erschöpft und hätte nicht mehr lange durchgehalten. Als er Annabel während ihres kurzen Krankenhausaufenthalts besuchte, gestand er ihr, Vater eines kleinen Jungen zu sein, der ihn während der aufreibenden Ermittlungen nachts um den Schlaf gebracht hatte.
    Was Annabel betraf, so operierte man ihre Nase und brachte ihre Zähne wieder in Ordnung. Aber die schlimmsten Schäden waren innerlich, und sie litt weit mehr unter dem Verlust ihres Kollegen und Freundes Jack Thayer als unter ihren Verletzungen.
    Nach dem Verschwinden ihres Ehemannes hatte sie den Eindruck, als erlösche nun mit Jack Thayers Tod ein Leuchtturm in der Dunkelheit. Was blieb, waren finstere, einsame Nächte.

Epilog
    Donnerstagmorgen
    Ein eigenartig graues Licht drang durch die großen Glasfronten des LaGuardia Airport.
    Saphir jaulte in seiner Box, die in den Rumpf des Flugzeugs verladen werden sollte. Brolin bückte sich, schob die Hand durch die Stäbe hindurch und streichelte ihn.
    »Alles wird gut, du wirst sehen.«
    Hinter ihm fragte Annabel leise: »Und für dich? Wird da auch alles gut?«
    Brolin wandte sich zu ihr um.
    Er strahlte eine verwirrende Ruhe aus. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder auf: schmelzende Schneeflocken, die über sein Gesicht glitten, oder der Wind, der ihn auf der Straße zu meiden schien. Im Grunde wusste sie, dass all das nur ihrer Fantasie entsprang, und doch meinte sie, bei Passanten bemerkt zu haben, dass sie ihn genauso fasziniert betrachteten wie sie selbst.
    Sie nahm die Liebkosung seines Blickes auf ihrer Haut wahr, ein wohliges Gefühl. Sie begehrte ihn nicht, nein, das war es nicht. Sie wollte seine Nähe, wollte Vertrautheit, geschwisterliche Vertrautheit, die es ihr erlaubte, einfach in seinen Armen einzuschlafen.
    Da er nicht antwortete, ergriff sie seine Hand.
    »Ich werde dir nie genug danken können. Du hast mir das Leben gerettet.«
    »Und ich verdanke dir die Freiheit.«
    Von plötzlicher Schwermut ergriffen, schüttelte sie den Kopf. Hinter ihnen trug das Rollband Saphir davon, der seinem neuen Herrchen nachwinselte.
    Sie gingen langsam zum Eincheckbereich.
    »Hast du nie daran gedacht, nach New York zu ziehen?«, fragte sie. »Arbeit gäbe es genug für dich.«
    »Ich würde mich hier nicht wohl fühlen. Diese Stadt ist nichts für mich«, gestand er.
    Annabel lachte.
    »Gibt es irgendeine Stadt, die etwas für dich ist?«
    Brolin hob den Kopf, sein Blick verlor sich in der Ferne.
    »Ich weiß nicht … diese jedenfalls nicht.«
    New York ist eine Stadt, in der das Leben pulsiert, in der Altes und Neues nebeneinander bestehen. New York ist eine Metropole von himmelwärts strebenden Vertikalen, die vibriert, sich ausdehnt. Eine stimulierende Welt voller Gegensätze. Es gibt sicher keinen anderen Ort, der so dicht besiedelt, so lebendig ist und an dem man sich so einsam fühlen kann. Lebendig und zugleich tödlich. Hier ist nichts definitiv, nicht einmal die Gewissheit. Die Stadt fordert immer mehr, verschlingt die Energie und speit die Seelen jeden Morgen unbefleckt wieder aus. Sie ist wie eine Droge, dem einen beschert sie Hellsichtigkeit, dem anderen Schimären. Hier bekommt man das zurück, was man gibt.
    Und Brolin hatte nichts als Schatten gesehen.
    Vor ihnen bedrängte ein Zehnjähriger seine Mutter mit Fragen nach dem Wie und Warum. Um ihn zum Schweigen zu bringen, drückte die entnervte Mutter ihrem Sohn einen Gameboy in die Hand.
    Zorn stieg in Annabel auf, und sie presste die Lippen zusammen.
    »Ich glaube, ich habe verstanden, was du mir neulich auf der Hafenmole sagen wolltest. Dass Caliban das Produkt unseres Fehlverhaltens ist«, erklärte sie und sah den Jungen an, der jetzt schwieg.
    »Er war nur ein Rad im Getriebe, eines von vielen. Welches ist das Nächste?«
    Der Blick des Privatdetektivs verdüsterte sich.
    Sie kamen zum Sicherheitsbereich, und hier, an der weißen Linie, würden sich ihre Wege trennen.
    »Ich hoffe, du hast demnächst wieder einmal in New York zu tun … Dann melde dich bei mir.«
    Sie wollte keine Brieffreundschaft und auch keine Telefongespräche. Sie wusste, dass sie die Dinge ähnlich sahen, dass jeder Trost
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