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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht
Autoren: Amy McNamara
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Mund offen steht. Ich kann sämtliche ihrer perfekten Zähne sehen. Ich guck auf dem Handy nach der Uhrzeit. Wenn ich jetzt aufstehe, komme ich nicht zu spät zur Arbeit. Ich schiebe eins ihrer Augenlider mit dem Finger hoch.
    »Uff.« Sie schlägt meine Hand weg. »Nicht so laut, bitte.« Sie zieht sich ein Kissen übers Gesicht.
    Sie redet mit mir. Ein gutes Zeichen.
    »Manche Leute müssen zur Arbeit.« Ich schlage die Decke zurück.
    »Ich nicht«, sagt sie unter dem Kissen und grapscht nach der Decke, die sie wieder hochzieht.
    Ich kann Zara in der Küche hören. Ein besseres Geräusch habe ich lange nicht gehört. Sie müssen spät zurückgekommen sein. Dad kann noch nicht auf sein. Er steht nie früh auf. Ich rieche Eier. Oh, Zara.
    »Ich habe Verpflichtungen.«
    Ich stehe auf, halte meinen Kopf eine Weile.
    »Klappe«, stöhnt sie. »Ich schlafe.«
    »Schlaf, so lange du willst. Ich sag Zara, dass sie dich nicht stören soll. Treffen wir uns hier so gegen drei, wenn ich fertig bin?«
    Sie antwortet nicht, aber aus ihrem augenblicklichen Erscheinungsbild kann man schließen, dass sie noch da sein wird, wenn ich zurückkomme. Ich sammele ein T-Shirt, einen Kapuzenpullover und ihre neue, tolle Jeans vom Fußboden. Bettmiete. Sie liegt alle viere von sich gestreckt unter meinem Quilt.
    Zara ist still, während wir frühstücken, schiebt die Zeitung zu mir rüber, häuft Schinken und Eier auf meinen Teller. Stellt mir nicht tausend Fragen. Ich bin dankbar. Wir essen, dann bringt sie mich zur Bibliothek.
    Lucy ist den größten Teil des Vormittags unterwegs. Rein und raus, hauptsächlich raus.
    Tausend Mal gucke ich auf mein Handy. Nichts von Cal. Ich bin unruhig, zappelig. Ich hätte laufen gehen, mir den Kater und Merediths Ankunft abarbeiten sollen. Ich werd die Beklommenheit nicht los.
    Es ist, als würde ich auf einem hohen Drahtseil schwanken , über irgendwas balancieren, das ich nicht identifizieren kann, etwas Wichtiges, und der zarteste Windhauch oder ein falsches Wort könnten mich entweder in die eine oder die andere Richtung stoßen.
    Besorgt. Aufgeregt. Das alte Leben. Jetzt. Hier. Damals.
    Ich bin mit dem Einstellen der Bücher fertig und bereite weitere Bestellungen zur Auslieferung vor, arbeite, bis nichts mehr für mich zu tun ist. Dann setze ich mich an den großen Tisch beim vorderen Fenster und gehe den Stapel Bücher durch, den Lucy mir zum Lesen hingelegt hat. So was macht sie. Meine persönliche Bibliothekarin. Emily Dickinson. Flannery O’Connor, Frank O’Hara, Salinger, Lowell. Lucy Shepherd redet nicht viel, doch die Bücher, die sie hinlegt, sagen eine Menge.
    Ich nehme Franny and Zooey zur Hand. Wir haben es in der zehnten Klasse gelesen, bevor wir mit den russischen Schriftstellern anfingen. Ich mochte die Familie Glass, wie sie sich um die Kinder auseinander- und zusammenzogen. Und Zooey ganz besonders, denn trotz Frannys Drama war die so cool. Ich blättere die Seiten schnell durch, versuche, eine Passage zu finden, die ich mag, dann lege ich das Buch wieder hin. Es ist hoffnungs los. Die Worte wollen nicht am Platz bleiben. Heute ka nn ich ihnen keinen Sinn abgewinnen.
    Ich schreibe Cal eine SMS . Sag ihm, dass ich später vorbeikomme.
    Keine Antwort.
    Mein Magen hebt und senkt sich, ist auf einer wilden Rutschpartie. Er will mich nicht plötzlich in die Wüste schicken, sage ich mir. Aber nein. Warum sollte er? Doch er hat kein Wort darüber verloren, woran er eigentlich arbeitet. Wahrscheinlich ist es was für die Uni. Er macht sich bereit, zurückzugehen, hier abzuhauen.
    Ich würde töten dafür, jetzt laufen gehen zu können.
    Ich guck zur Uhr über dem Fenster. Noch fünfzig Minuten.
    Fünfzig Minuten mit mir, bis ich zurückfahre und Meredith gegenübertrete. Vielleicht nehme ich sie mit zu Cal. Ich schau wieder zur Uhr. Immer noch fünfzig Minuten. Ich kann mich nicht einfach verdrücken. Meredith mag darüber spotten, aber mir gefällt dieser Job. Lucy verlässt sich darauf, dass ich hier bin.
    Ich stehe auf und laufe herum, umkreise die Bücherstapel. Irgendwas muss ich mit dieser Energie tun. Ich nehme O’Haras Lunch Poems in die Hand. Lucy sagt, er hat sie geschrieben, während er in seiner Mittagspause durch die Stadt geschlendert ist, als er einen Job im MoMA hatte. Ein paar davon rezitiere ich dem leeren Raum.
    Dann werfe ich O’Hara auf den Tisch und nehme Fahrt auf. Nur ich und die Bücher. Ein Haufen toter Schriftsteller. All diese hinterlassenen Worte. Wie
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