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Immortalis

Immortalis

Titel: Immortalis
Autoren: Raymond Khoury
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entdeckte ihn halb verdeckt hinter einer splitternarbigen Mauer, als sie zur Ruine der Moschee zurückschaute. Er stand allein dort, die unvermeidliche Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.
    «Faruk?»
    Er war es wirklich – nach all der Zeit immer noch unverwechselbar. Sein zaghaftes Lächeln bestätigte es ihr.
    Rames – einst ihr schmächtiger, hyperaktiver Student, jetzt Assistent in ihrer Abteilung und als Schiite sehr nützlich, um in diesem Land Zugang zu finden – schaute vom Hohlraum unter der Außenmauer herauf. Evelyn sagte, sie sei gleich zurück, und ging hinüber zu Faruk.
    Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie vor über zwanzig Jahren gemeinsam auf glühend heißen Grabungsstätten im Irak gearbeitet hatten. Damals war sie die unermüdliche Sitt Evelyn gewesen – Lady Evelyn, jung, sprühend und leidenschaftlich in ihrer Arbeit: eine Naturgewalt. Sie leitete die Ausgrabungen auf dem Palasthügel von Sennacherib in Ninive und in Babylon, sechzig Meilen südlich von Bagdad. Er war einfach Faruk und gehörte zum einheimischen Tross der Archäologen: ein kleiner, dickbäuchiger Kettenraucher mit schütterem Haar, Antiquitätenhändler und «Organisator», eine Art Mädchen für alles, wie man es anscheinend in diesem Teil der Welt für jede Art von Unternehmung benötigte. Er war immer höflich, ehrlich und tüchtig gewesen, ein stiller, zurückhaltender Mann, der stets mit bescheidenem Nicken lieferte, was er versprochen hatte, und sich auch vor lästigen Wünschen nicht drückte. Aber an den hängenden Schultern, den tiefen Furchen auf seiner Stirn und den wenigen grauen Strähnen, die früher dichter und schwarz gewesen waren, konnte man sehen, dass die Jahre nicht übermäßig freundlich mit ihm umgegangen waren. Der Irak hatte in letzter Zeit allerdings auch nicht gerade ein goldenes Zeitalter erlebt.
    «Faruk», rief sie strahlend. «Wie geht es Ihnen? Mein Gott, wie lange ist es her?»
    «Sehr lange, Sitt Evelyn.»
    Nicht, dass er je besonders überschwänglich gewesen wäre, doch seine Stimme klang merklich bedrückt. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten. Waren es die vielen Jahre, die ihn so reserviert aussehen ließen, oder war es etwas anderes?
    Unbehagen beschlich sie. «Was machen Sie denn hier? Wohnen Sie jetzt im Libanon?»
    «Nein, ich habe den Irak erst vor zwei Wochen verlassen», antwortete er düster und fügte dann hinzu: «Ich habe Sie gesucht.»
    Sie war verblüfft. «Mich gesucht …?» Jetzt war sie sicher. Hier stimmte etwas nicht. Dass sein Blick zwischen den kurzen Zügen an der Zigarette nervös hin und her huschte, vergrößerte ihre Besorgnis. «Ist alles in Ordnung?»
    «Bitte. Können wir …?» Er winkte sie weg von der Moschee und führte sie um die Ecke in einen verborgenen Winkel.
    Sie folgte ihm, den Blick wachsam zu Boden gerichtet, stets auf der Hut vor den kleinen Clusterbomben, die in der ganzen Region wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie sah seine verstohlenen Blicke hinunter zur Hauptstraße des Dorfes, und es war klar, dass er nach einer ganz anderen Gefahr Ausschau hielt. In den engen Gassen herrschte reges Treiben: Von Lastwagen wurden Hilfsgüter abgeladen, behelfsmäßige Zelte wurden errichtet, Autos schlängelten sich im Schneckentempo durch das Chaos, und hin und wieder hörte man eine ferne Explosion – eine beständige Erinnerung daran, dass der Vierunddreißig-Tage-Krieg zwar vorüber war und offiziell Waffenstillstand herrschte, der Konflikt aber noch andauerte. Doch Evelyn sah nicht, was Faruk so beunruhigte.
    «Was ist los?», fragte sie. «Ist alles in Ordnung?»
    Wieder sah er sich um und vergewisserte sich, dass niemand ihnen gefolgt war. Dann schnippte er seine Zigarette weg und zog einen kleinen, zerknitterten braunen Umschlag aus der Jackentasche.
    Er reichte ihn ihr und sagte: «Die wollte ich Ihnen bringen.»
    Sie öffnete das Kuvert und nahm einen kleinen Stapel Fotos heraus. Es waren Polaroids, leicht verknickt und abgegriffen.
    Evelyn schaute Faruk fragend an, aber ihr Instinkt sagte ihr bereits, was sie auf diesen Fotos sehen würde. Sie hatte kaum angefangen, die ersten paar Bilder durchzublättern, als sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand.
     
    Sie war 1992 in den Libanon gezogen, als das Land soeben einen langen und letzten Endes sinnlosen Bürgerkrieg hinter sich gebracht hatte. In den sechziger Jahren, kurz nach ihrem Examen in Berkeley, war sie in den Nahen Osten gekommen und hatte auf
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