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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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das ist doch sehr verdächtig.« Ich kann nur sagen, ich war da und erledigte das Leben. Nicht umgekehrt.
    Das Café, in dem ich arbeitete, gehörte einem Perser, der aus dem Iran durch die Wüste geflüchtet war, nach West Hollywood, gleich neben eine Disco, in der von 12.00 Uhr mittags bis nachts Männer Männer betanzten und Frauen Frauen. Eine Cousine von ihm, die mit ihrem Mann aus dem Iran geflüchtet war, die ich einarbeiten musste, machte große Augen unter ihrem Kopftuch. Sie war unbeholfen, schüchtern, dabei neugierig auf die Neue Welt. Sie fragte: »Sag mal, sind die alle homosexuell?«
    Ihr Mann holte sie ab, wenn unsere Schicht zu Ende war. Dann gingen sie, sie vor ihm her in ihrem langen, dunklen Rock und einer langärmeligen Bluse. Wenn er kam, wurde sie schweigsam und senkte den Blick. Er brachte sie auch, wenn ihre Schicht anfing.
    Manchmal war ich schon da.
    Sie: »Ich möchte zum College gehen. Englisch lernen.«
    Sie: »Ich wäre auch gerne nicht verheiratet.« So fing es an.
    Eines Tages, wir servierten bestimmt schon über ein halbes Jahr zusammen, hielt sie mir ihre Finger hin. »Gefällt dir die Farbe?« Mir gefiel die Farbe, feuerrot.
    Dann kam sie nicht mehr in langen Röcken, und ich sah, dass ihre Beine dick waren. Dann trug sie keine langärmeligen Blusen mehr, sondern T-Shirts, immer kürzere, und ich sah, dass sie Speck ansetzte am Bauch.
    Ich: »Es ist gut, wenn du dich anders anziehen willst, aber du musst lernen, wie. Was sagt eigentlich dein Mann dazu?«
    Sie zuckte mit den Schultern, strich das Kopftuch glatt. Ihr Mann holte sie von der Arbeit ab, sie ging vor ihm her.
    Am nächsten Tag kam sie nicht. Auch nicht am übernächsten. Es dauerte mehrere Wochen, bis sie wiederkam. Ich stand an der Kaffeemaschine, als sie das Café betrat. Sie trug einen langen Rock, eine langärmelige Bluse. Aber ich sah, dass ihre Haare lang waren und schwarz.
    Ich: »Jalaah!«
    Sie: »Ich möchte lernen, wie.«
    Später ist sie zum College gegangen. Später hat sie sich von ihrem Mann getrennt.
    Durch Menschen wie sie, die Freunde wurden, rückte Deutschland aus dem Blick, und durch den Alltag, der zwar Alltag war, aber ein anderer als der in Deutschland. Sonniger, palmiger, meeriger, wenn man auch selten ans Meer fuhr und die Palmen nicht immer auffielen. Obgleich das Leben auch in Amerika zur Routine wurde, war gerade sie jeden Tag eine Herausforderung. Politisches Tagesgeschehen nahmen wir zur Kenntnis, aus Zeitungen, meistens ausländischen, denn aus amerikanischem Fernsehen und lokalen Zeitungen erfuhr man wenig. World News waren Local News. Die Welt war Amerika in Amerika. Sicher, es gab wichtige Ereignisse, auch 1989. Im Januar trat George Bush die Nachfolge von Reagan an. Man sprach darüber, was Amerika bevorstand, würde es schlimmer oder besser werden. Seine Parole von der »Neuen Weltordnung« flößte Angst ein. Perestroika, Glasnost hallten dagegen. Und wir lasen im Mai vom Abbau der Grenzanlagen Ungarns zu Österreich, im Juni sahen wir die Bilder vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Im September hörten wir im Fernsehen von Ungarns Grenzöffnung zum Westen.
    Arbeitstag im Café. Es war sonnig, warm. Es war um die Mittagszeit. Eine Freundin rief an, die für einen deutschen Korrespondenten arbeitete.
    »Weißt du schon, was passiert ist?«
    »Nein, was denn?«
    »Die Mauer ist offen! Ich dachte, das wird dich interessieren. Wir haben die Meldung gerade reinbekommen«
    »Verarschen kannst du dich selber. Ich mag solche Witze nicht«, antwortete ich, knallte den Hörer auf, bediente weiter Leute, während das Radio lief. Zur vollen Stunde die Nachrichten. Breaking News. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen der Freundin gegenüber.
    Nach dem Mauerfall kam die DDR wieder ganz nah. Abends saß ich vor dem Fernseher und sah mir die Gegenwart an. Ich verfolgte die Bilder. Ohne Aufregung. Ohne Freude. Ich wusste noch nicht, was ich damit anfangen sollte.
    In jenen Tagen klingelte das Telefon unablässig, die Mutter, der Vater, die Schwester. Der Vater war zum Brandenburger Tor gegangen, mitten in der Nacht, Flasche Sekt in der Hand, hatte Leute beobachtet, wie sie auf der Mauer tanzten, sie Stück für Stück einrissen. »Ein tolles Gefühl.«
    Die Mutter und die Schwester saßen tage- und nächtelang vor dem Fernseher in Düsseldorf. Flaschen Sekt und Gläser. Die Mutter hat geheult, Rotz und Wasser. »Was haben wir alles durchgemacht, und jetzt ist es soweit.
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