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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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Was hätte uns alles erspart bleiben können.«
    Von all meinen DDR-Verwandten kam mich zuerst ein Cousin in Los Angeles besuchen. Zwölf Jahre zuvor hatten wir uns das letzte Mal gesehen, am Tag der Ausreise. Wie Fremde, die einander kennen, saßen wir uns gegenüber. Voller Worte sprachlos, eingeschüchtert durch die Zeit. Nur langsam näherten wir uns ein wenig. Ich führte ihn in Bars, die er so noch nie gesehen hatte. Ich ließ ihn Musik hören, die er so noch nie gehört hatte. Ich ließ ihn Essen bestellen, das er so noch nie gegessen hatte. Uns trennten Welten, und nach dem Urlaub kehrte er in seine zurück, die sich an die neue annähern konnte, und er mit ihr. Beneidenswert, dachte ich, weil sie nicht über ihn kam, wie es bei uns gewesen war.
    Auch die anderen kamen. Zusammen mit der Tante. Auch ihnen zeigte ich Bars, die sie so noch nie gesehen hatten, ließ sie Musik hören, die sie so noch nie gehört hatten, zeigte ihnen Städte, die sie so noch nie gesehen hatten. Und auf dem Empire State Building in New York sagte die Tante: »Und das wollte uns der Honecker alles vorenthalten.« Oder war es eine Frage?
    Die Verwandten fuhren wieder, ich blieb. Ein Deutschland ohne Mauer konnte ich mir nicht vorstellen, und ich sah es erst ein Jahr später, als ich in den Sommerurlaub fuhr. Aus irgendeinem Grund war die ganze Familie in Berlin, die Schwester, die Mutter, der Vater und ich. Aus irgendeinem Grund beschlossen wir, mit dem Auto nach Berlin-Köpenick ins Märchenviertel zu fahren. Die Schwester und ich saßen hinten im Auto, der Vater fuhr, die Mutter saß auf dem Beifahrersitz. Wie früher. Nur nicht mehr im froschgrünen Shiguli, sondern im Honda. Wir fuhren aus dem Westteil der Stadt in den Ostteil. Wo die Mauer verlaufen war, konnte man schon nicht mehr sehen. Verwirrend war das. Dass man von einem Teil in den anderen gekommen war, versicherten einem die schwarzen Häuserfassaden. Wir fuhren also, und plötzlich war ich wieder zwölf, die Schwester vier, die Eltern Anfang Dreißig und Anfang Vierzig, zurückkatapultiert über mehr als ein Jahrzehnt. Wir sahen das zweistöckige Haus im Märchenviertel, die Gartenpforte, den Rotdornbaum, die Fenster vom Wohnzimmer. Im Garten rechte der Hausherr Laub. Kein Trugbild, das der Wirklichkeit täuschend ähnlich war, es war die Wirklichkeit, die schon beinahe ein Trugbild geworden war. Oder, besser gesagt, beinahe geworden wäre. Damals hielten wir nicht an, fuhren schweigend daran vorbei.
    Jetzt, nach dreißig Jahren, habe ich den Hausherrn, unseren Vermieter, und seine Tochter, die Freundin, wieder getroffen. Diese Begegnungen sind tröstlich, nicht nur, weil es viel zu erzählen gibt. Es tröstet auch, wenn der Vermieter sagt, dass er damals, als Männer ihn fragten, ob er in Zukunft Auskunft geben würde, nein gesagt hatte. »Ein Nein von mir ist ein Nein. Die fragten nie wieder«, sagt er.
    Erinnerungen werden ausgetauscht, und Stück für Stück vervollständigt sich das Bild, wird ein Ganzes. Nicht nur das. Man holt sich ein Stück Biographie zurück. Es funktioniert nicht mit jedem. Mit dem Bruder nicht, und auch nicht mit den Cousins.

12
    Nach diesem Sommer war ich froh, in Berlin gewesen zu sein, aber ich war auch froh, wieder weg zu können. Los Angeles war mein Zuhause geworden. Dort gab es auch Veränderungen. Vom College wechselte ich auf die Universität. Ich arbeitete nicht mehr nur im Café, sondern übersetzte Bücher aus dem Englischen. Wenn das nicht war, Wohnungen putzen, zusammen mit einer Freundin. Wir waren »The magic broom«, zwei Hexen, die durch Apartments in Culver City fegten, da, wo die wohnen, die in den Filmstudios arbeiten. Uns konnte nichts erschüttern. Auch nicht die Erdbeben. Jedenfalls nicht mehr.
    Erschüttert hat mich das Beben, das 1992 durch die Familie ging, als mich der Anruf erreichte. Am 29. Januar, als die Mutter sagte: »Setz dich. Ich muss dir etwas sagen. Euer Onkel, der Bruder deines Vaters, mein Schwager, hat uns jahrelang ausspioniert. Sein Deckname war IM ›Schäfer‹. Auch hinter der Sache mit dir hat er gesteckt.«
    Am 21. Januar um 9.00 Uhr hatte der Vater als einer der ersten in der damaligen Gauck-Behörde seine Akten eingesehen. »Es gab zwei Räume, die durch einen Durchgang miteinander verbunden waren. Dort saßen wir. Mit mir lasen noch andere in ihren Akten. Jürgen Fuchs, Katja Havemann, Hubertus Knabe, Gerd Poppe und seine Frau. Im Lesesaal war es still wie in einer Bibliothek«, erzählt
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